Sie waren Logistikchef von Amazon Deutschland. Ende 2018 wechselten Sie zu dem Logistikunternehmen LGI, das Sie seit Juli 2019 als CEO führen. Was reizte Sie an LGI?
Ich kenne die LGI aus meinen Zeiten vor Amazon und mich hat bereits damals die Unternehmenskultur und die Kundenausrichtung begeistert. Zudem hat die LGI genau die richtige Unternehmensgröße. Als Logistikdienstleister mit 5000 Mitarbeitern sind wir klein genug, um flexibel zu sein. Andererseits sind wir groß genug, um mit und für unsere Kunden in den Branchen Automotive, Electronics, Fashion & Lifestyle, Health Care sowie Industrial End-to-End-Lösungen in der Logistikkette erarbeiten und umsetzen zu können.
Nun gibt es ja ein Thema, das derzeit alles überschattet, und über das wir deshalb reden müssen: Wie hart trifft Ihr Unternehmen das Coronavirus?
Die Automotive Branche ist unser größtes Geschäftsfeld, in dem wir rund ein Drittel unseres Umsatzes erwirtschaften. Wenn jetzt aufgrund des Coronavirus unsere Autohersteller ihre Werke über Wochen schließen, trifft uns das natürlich massiv. Unsere Warenflüsse werden dadurch im Automotive Bereich in den nächsten Wochen auf ein Minimum zurückgehen. Andererseits liegen wir durch den Coronavirus-Effekt in unseren Bereichen Health Care und Electronics durch die verstärkte Nachfrage nach Laptops und digitalem Equipment sehr stabil, aber auch weil die Fabriken in Asien ihre Produktion mittlerweile wieder auf über 80 Prozent hochgefahren haben.
Wie hoch beziffern Sie durch die Coronavirus-Krise Ihren Umsatzeinbruch?
Im Automotive Bereich werden wir in den Schließwochen bis zu 80 Prozent unter dem Umsatz im Vergleich zum Vorjahreszeitraum liegen. Wie sich aufgrund der Coronavirus-Thematik insgesamt unser Umsatz in diesem Jahr entwickeln wird, weiß ich noch nicht. Denn einige unserer Geschäftsfelder entwickeln sich ja, wie ich sagte, in eine sehr positive Richtung.
An welchen Hebeln setzen Sie jetzt an, damit aus dem Coronavirus-Thema keine Krise für LGI wird?
Unser Unternehmen beschäftigt insgesamt 5000 Mitarbeiter, davon sind rund ein Drittel im Automotive tätig. Und davon werden wir Stand heute (20. März – die Redaktion) wohl für einen Großteil der Mitarbeiter Kurzarbeit anmelden müssen. Vorrangig im gewerblichen Bereich in unseren Logistikzentren, weniger in der Administration, weil unsere Kunden ja trotz des Shutdowns ihrer Werke nach wie vor Verzollungsfragen und fallweise Teile zu versenden haben, etwa für Forschungszwecke.
Auf welchen Zeitraum wir die Kurzarbeit befristen werden, lässt sich heute noch nicht beantworten. Da müssen wir flexibel agieren und werden das von Woche zu Woche neu entscheiden. Die Autohersteller gehen ja aktuell von zwei bis vier Wochen Werksschließungen aus. Realistischerweise dürfte die Mehrheit der Produktionswerke aber wohl erst nach vier Wochen wieder anlaufen. Und so lange wird wohl auch unsere Kurzarbeit andauern.
Was werden Sie neben der Kurzarbeit noch tun, um LGI sicher durch die Coronakrise zu führen? Welches der Instrumente, die das Hilfspaket der Bundesregierung heute verabschieden wird, werden Sie nutzen: zum Beispiel Darlehen über KfW, etc.?
In Bezug auf Hilfspakete sehen wir in der Elanders Gruppe momentan kein Bedarf. Hier sind wir sehr gut aufgestellt. Und wie schon erwähnt, konzentrieren wir uns noch fokussierter auf die Bereiche Health Care und Electronics. Der E-Commerce läuft ja bekannterweise weiter und wir arbeiten eng mit unseren Kunden an Zusatzdienstleistungen, um ihnen erfolgreich durch diese Zeit zu helfen.
Warum holen Sie Ihre Mitarbeiter nicht einfach aus dem Automotive in die Geschäftsbereiche, die gerade zulegen?
Diese Flexibilität haben wir als Logistikdienstleister in normalen Zeiten. Aktuell ist ein solches Umschichten schwierig. Sie kennen selbst die derzeitigen Reise- und Ausgangsbeschränkungen. Dazu kommt, dass viele Hotels geschlossen sind. Deshalb muss ich zum Beispiel für unsere Standorte in Nordrhein-Westfalen jetzt Zeitarbeiter holen, damit wir dort die Nachfragespitzen händeln können, während ich an anderen Standorten Mitarbeiter nach Hause schicken muss. Das ist für viele schwer zu vermitteln.
Was gibt Ihnen in der aktuellen Phase Kraft die richtigen Entscheidungen zu treffen?
Die Kraft schöpfe ich aus der Energie und des Engagements unserer Mitarbeiter. Das Zusammenrücken mit den Kunden bringt einen zusätzlichen Schub, da alle in einem Boot sitzen. Außerdem kann ich als neuer CEO in einer herausfordernden Zeit viel besser erkennen wer mitzieht und welche neuen Kräfte sich hervortun. Somit sehe ich das als klare Möglichkeit gestärkt aus dieser Corona Zeit zu kommen und mein eigenes Lernen zu beschleunigen.
FedEx hat vergangene Woche bereits angekündigt, seine Jahresziele zu streichen. Macht das LGI jetzt auch?
Das ist für uns noch zu früh. Wie gesagt, wir müssen sehen, wie sich Automotive entwickelt, ob dieses Geschäft nach vier Wochen wieder anläuft und wie sich dann die Mengen entwickeln. Wenn das Ganze länger andauert, werden wir unsere Jahresziele aber natürlich anpassen müssen.
Welche Ziele hatten Sie sich denn für 2020 konkret gesetzt? Bei welchem Umsatzplus wollten Sie zum Beispiel landen?
Da wir über unseren schwedischen Mutterkonzern Elanders an der Börse notiert sind, kommunizieren wir keine Zahlen von einzelnen Gesellschaften. Wir haben aber, so viel kann ich sagen, für 2020 mit einem schwächeren Umsatzwachstum geplant als in den Jahren zuvor. Für Automotive rechneten wir aufgrund der vielfältigen Herausforderungen in diesem Sektor sogar mit weniger Umsatz. Noch bin ich zuversichtlich, dass wir unsere Jahresziele erreichen werden. Wir haben im vergangenen Jahr sehr viel investiert und neue attraktive Lösungen geschaffen. Das bedeutet, dass wir neben klassischen Dienstleistungen im E-Commerce Bereich vermehrt auf Fulfillment Services im Online Handel setzen. Hier entwickeln und betreiben wir umfangreiche Services, wie zum Beispiel Order Management, Financial Services, Customer Care, Content Management bis hin zur Endkundenbelieferung. Im Bereich Life-Cycle-Services betreuen wir den kompletten Lebenszyklus eines Produktes – von der Herstellung bis zur Wiederverwendung inkl. der Unterstützung beim Weiterverkauf.
Personalabbau steht bei LGI jetzt also nicht an.
Downsizing ist derzeit kein Thema für uns. Wir sehen ja für uns, trotz der aktuell schwierigen Situation, gute Voraussetzungen im Markt. LGI sitzt im Zentrum von Europa. Wir haben einen guten Kunden- und Branchenmix. Und wir haben uns, wie gesagt, schon frühzeitig in 2019 auf eine gewisse Konsolidierung in diesem Jahr eingestellt und die entsprechenden Maßnahmen dafür eingeleitet.
Dies bezieht sich sowohl auf die strategische Ausrichtung der LGI, auf organisatorische Optimierungen und gezielten Fokus auf Effizienz mit dem nutzen digitaler Lösungen.
Wie sieht also Ihr Erfolgsrezept aus, um LGI weiter nach vorne zu bringen?
Insgesamt stellen wir fest, dass die Supply Chains noch kleinteiliger, die Mengen-Vorhersagen noch kurzfristiger und weniger planbarer werden. Das ist nicht nur in der Automotive Branche so, sondern in allen Branchen. Für das letzte Glied in der Logistikkette, den Warenempfänger, wird das Thema Visibilität und Verfügbarkeit also noch wichtiger werden. Sprich: diese Firmen werden mehr Einfluss auf ihre Logistikkette haben wollen - auf deren Verlauf, die Teile-Verfügbarkeit und den Faktor Zeit.
Und wenn ich vom letzten Glied spreche, meine ich zum Beispiel in der Automotive Branche nicht den Endverbraucher, sondern den OEM. Hier muss ein Logistikdienstleister in der Lage sein, den Wareneingang im Werk sowie die Steuerung der Warenflüsse der Zulieferer zu übernehmen. Sprich: die Supply Chains werden sich zunehmend zu Demand Chains wandeln, in denen das letzte Glied festlegt, wie die Logistikkette auszusehen hat.
Was heißt das für LGI? Wohin wollen Sie Ihr Unternehmen entwickeln?
Wir wollen uns vermehrt als End-to-End-Dienstleister in der Demand-Chain positionieren. Das ist unsere Strategie. Dorthin werden wir LGI weiter entwickeln, denn Märkte und Anforderungen ändern sich. Bislang produzieren Firmen Produkte. Sie arbeiten da nach dem Push-Prinzip, sie stellen also ein Produkt vor, für das sie Nachfrage generieren. In unserem Zeitalter der Digitalisierung dreht sich das. Heute haben Endverbraucher eine so große Produktauswahl, dass zum Beispiel Standardprodukte an Bedeutung verlieren. Stattdessen können sie definieren, wie das für sie passende Produkt wir zum Beispiel ihr Fahrzeug auszusehen hat. Der Endkunde erhält also viel mehr Macht. Mit der Folge, dass wir zunehmend Pull-Systeme haben werden, die die traditionellen Push-Systeme ablösen. Ein Hersteller wird also, davon gehen wir aus, nur mit den Logistikdienstleistern arbeiten, die in der Lage sind, ihre gesamte Logistikkette so zu überwachen, dass er am Ende dieser Kette noch kurzfristig entscheiden kann, was er anders haben will.
Klingt abstrakt: Mit welchen logistischen Mehrwertdiensten will LGI bei Auftraggebern da künftig punkten?
Neben den E-Commerce Lösungen und den bereits angesprochenen Value Recovery Lösungen (die Wiederverwertung von Elektronik-Produkten wird eine immer größere Rolle einnehmen) wollen wir als Dienstleister nicht mehr nur einen kleinen Ausschnitt in der Logistik managen, sondern künftig die gesamte Logistikkette End-to-End, ganzheitlich, also vom Versand der Teile seitens der Lieferanten bis hin zum Wareneingang/Inbound im Werk des Produzenten. So könnten wir im Auftrag eines OEMs für diesen die Supplier in Gänze managen – im Sinne der besagten Demand-Chain. Zusätzlich könnten wir uns zum Beispiel über die Steuerung und das Händling von Daten als Dienstleister noch tiefer in die Prozesse unserer Kunden einklinken. Alles das macht LGI als Dienstleister weniger austauschbar und bietet den Kunden einen Mehrwert.
Und in welchen Kundenbranchen sehen Sie mit solchen Lösungen das größte Wachstumspotenzial, und wie wollen Sie dieses jetzt erschließen?
Im Automotive Bereich sehen wir große Veränderungen auf uns zukommen, aber wir sehen das als positive Herausforderung. Es wird eine andere, angepasste Zukunft sein. Sprich: wir werden unsere Kunden viel stärker bei ihren Fragestellungen unterstützen müssen, wo für sie zum Beispiel die Produktionssteuerung stattfindet, welche Dienstleister sie infolgedessen aufschalten müssen, um die Logistikkette flexibler zu gestalten. In solchen Mehrwertdiensten sehen wir für uns echtes Wachstumspotenzial. Physisch werden uns aber im Zeitalter der E-Mobiliät, das ist auch klar, ein hoher Prozentsatz der Teile im Transport und in der Lagerei wegbrechen.
Ich bin aber zuversichtlich, dass wir diese Rückgänge mit unseren anderen Geschäftsfeldern Electronics, Fashion & Lifestyle, Health Care und Industrial kompensieren werden. Immer mehr Produzenten entdecken ja aktuell den B2C-Versand, den Direktversand an Endkunden unter Umgehung des Handels. Und dafür braucht es Webshops und E-Fullfilment – alles Aufgaben, die LGI seit geraumer Zeit erbringt und hier viel Know-how aufgebaut hat.
Sind das alles Aufgaben, die sich auch Mittelstandsunternehmen leisten können, oder können das nur große Logistikplayer wie die LGI?
Ich denke nicht, dass diese Aufgaben nur Große leisten können, zumal wir uns als LGI als Mittelstandsunternehmen sehen. Aber für kleinere Mittelständler ist es in der Logistik sicherlich nicht einfach. Zumal sie Mitarbeiter mit dem entsprechenden Know-how finden und binden müssen, etwa in der Prozessplanung und im Bereich Business Intelligence. Das ist schwierig, denn die Logistik ist gerade für solche Spezialisten selten die erste Wahl, obwohl unsere Branche das Rückgrat der Wirtschaft ist. Aber vielleicht hat das Coronavirus zumindest den Vorteil, das hoffe ich von ganzem Herzen, dass vielen Menschen die Bedeutung der Logistik jetzt wieder vor Augen geführt wird. Vielleicht bringt das Coronavirus also der Logistikbranche endlich die Wertschätzung, die sie verdient.
Klingt gut. Fakt ist aber auch, dass das Coronavirus viele Transport- und Speditionsbetriebe aus der Kurve tragen wird. Von welchem Szenario gehen Sie da aus?
Mit konkreten Zahlen tue ich mich schwer. Aber die Größenordnung von 20 Prozent, die unlängst Creditreform nannte, halte ich durchaus für realistisch. Zumal unsere Branche nach wie vor zu niedrige Umsatzrenditen erwirtschaftet. Trotz der angeblich fetten Jahre in der Vergangenheit. Außerdem haben etliche Unternehmen, gerade die kleineren und mittleren Betriebe, meines Erachtens teilweise viel Geld falsch in die Digitalisierung investiert. Bei digitalen Lösungen stelle ich grundsätzlich die Frage, welches Problem man für den Kunden löst, sonst wird man sich schwer tun damit Geld zu verdienen.
Trotzdem ist es wichtig in neue logistische Ansätze zu investieren und nicht wie beispielsweise alte IT Systeme zu missbrauchen und zu modifizieren. Wir befinden uns mitten in einem Umbruchprozess und es werden noch sehr viele neue und sehr schnell entstehende Entwicklungen auf uns zu kommen, die völlig neue Anforderungen an die Wertschöpfungskette stellen werden. (eh)
Das Interview führte VerkehrsRundschau-Redakteurin Eva Hassa