Es brodelt in der Stahllogistik

Anfang April, vor den Werkstoren von Thyssenkrupp in Duisburg: 16.000 Stahlarbeiter kommen zusammen, um gegen die immer schlechteren Rahmenbedingungen für die Branche zu protestieren. Es ist die größte Demonstration in der Stahlbranche seit Schließung eines Werks in Rheinhausen vor 30 Jahren. Stahlnachfrage durchaus vorhanden Kein Wunder, dass Stahlhändler, -verarbeiter und -transporteure mit bangen Blicken auf die Lage ihrer Kunden blicken. Doch die Stahlnachfrage ist gar nicht so schlecht, wie man vielleicht meinen könnte. "Wir haben keine Mengenkrise", lautete die Aussage von Bernhard Krischer von der Wirtschaftsvereinigung Stahl. Immerhin wurden 2015 in Deutschland 39,1 Millionen Tonnen Walzstahl in den Markt gebracht. "Das war ein Prozent weniger als im Vorjahr", sagte Krischer Ende April auf dem 16. Branchenforum Stahl in Dortmund, das der Verband Verkehrswirtschaft und Logistik (VVWL) Nordrhein-Westfalen in Zusammenarbeit mit dem Logistikcluster NRW ausgerichtet hat. Für 2016 sei sogar mit einem leichten Plus (ein Prozent) zu rechnen. Die Nachfrage nach Stahl ist also durchaus konstant, doch die Mengen kommen immer häufiger aus China. "Der Anteil der Stahlimporte aus China in die EU ist 2015 um 63 Prozent geklettert", so Krischer. In den ersten zwei Monaten 2016 hat sich dieses Tempo zwar verringert, aber es bleibt hoch: Um 20 Prozent sind die Importe gestiegen. Das verändert die Warenströme: "Wir fahren immer häufiger in die Seehäfen, um von dort Stahl zu den Kunden zu bringen", sagte Eckhard Siebel, Geschäftsführer der Spedition Gerhard Siebel. Damit verbunden sei das Problem, auch für die Hinfahrt eine Ladung zu bekommen. Doch womöglich ist das Ende der Fahnenstange noch längst nicht erreicht. Jens Lauber, Managing Director Distribution Europe bei Tata Steel (Top drei der größten Stahlhersteller Europas), wies darauf hin, dass in Deutschland der Importanteil mit 15 Prozent noch vergleichsweise gering ist: "In den USA beträgt dieser Wert 25 Prozent." Da China den Weltmarkt mit seinem Stahl flutet, hat das Folgen für die Preise. "Eine Tonne Warmstahl wurde zum Jahresende für 218 Euro pro Tonne gehandelt. Vor vier Jahren stand sie noch bei über 500 Euro", sagte Lauber. Diesen Preisverfall zu stemmen sei eine "wahnsinnige Herausforderung, wenn sie nicht massive Verluste schreiben wollen", so Lauber. Die Überkapazitäten führen auch dazu, dass Tata Steel plant, Werke in Großbritannien zu veräußern. Außerdem finden derzeit Gespräche zwischen Tata Steel und Thyssenkrupp Steel Europe statt über eine Zusammenlegung von Unternehmen und damit auch Werken - was neue Warenströme bedeuten würde. Lauber konnte zum Stand der Verhandlungen nichts sagen. "Aber 2016 wird da noch etwas passieren", lautete seine Vermutung. Nicht zuletzt der enorme Kostendruck führt dazu, dass in der Stahlindustrie und damit auch in der Logistik das Thema "Digitalisierung" an Bedeutung gewinnt. So arbeitet Tata Steel daran, über Portale den Kunden eine möglichst hohe Transparenz zu liefern. "Der Kunde soll wissen, wo steht sein Produkt und wann kommt es", sagte Lauber. Über Services wie truck & tracing könne man sich gegenüber der Konkurrenz abheben. Hier seien auch die Logistikdienstleister gefragt, sich in die Ketten einzubinden. Portal Steel Online auch für Logistiker Portale betreiben aber nicht nur die Stahlhersteller, sondern auch neutrale Anbieter. Wie die Montanstahl GmbH mit ihrer Online-Plattform Steel Online. Steel Online soll den häufig regional tätigen Händlern die Möglichkeit bieten, europaweit per Mausklick neue Regionen mit zahlreichen Stahlverbrauchern zu erschließen. Ralf Niemeier, Geschäftsführer von Montanstahl, bezeichnete den Stahlhandel im Internet "als Zukunft, das ist keine Vision mehr". Heute würden noch 600 bis 800 Mitarbeiter im deutschen Stahlhandel Angebote erstellen, "bei uns könnten diese Aufgabe drei Personen erledigen", so Niemeier und verdeutlichte, welche enormen Kostensenkungspotenziale in dem Markt schlummern. 4700 Stahlverbraucher und 700 Stahlhändler seien bereits auf dem Portal. Auch die Spediteure will Niemeier auf Steel Online ziehen. "Aber noch sind wir nicht soweit, das wird wohl noch bis Mitte nächsten Jahres dauern", sagte er. Dass die Digitalisierung schon heute die Stahlspediteure in ihrer täglichen Arbeit berührt, zeigt das Thema "Zeitfenster-Buchung". "Aus Sicht der Stahlindustrie ist dieses System nachvollziehbar: Denn Lade- und Entladeprozesse sind mit solchen Zeitfenstern effizienter und transparenter zu gestalten", sagte Stefan Windgätter, Vorsitzender des Fachausschusses Stahl im VVWL. Der Geschäftsführer der Spedition Windgätter & Sohn mahnte jedoch, den Blickwinkel der Spediteure nicht zu vernachlässigen: "Zeitfenster bedeuten für uns eine Restriktion, die uns in der Flexibilität einschränkt." Die Einhaltung von Lenk- und Ruhezeiten und die zunehmende Anzahl von Staus würden die Planung der Touren weiter erschweren. Windgätter schlug vor, über Zeitkorridore nachzudenken. Als weiteren Vorschlag nannte er die Ausstattung von Lkw mit Tablets: "Die Stahlproduzenten könnten darauf eine App spielen, die den Standort des Lkw dem Werk und beispielsweise die voraussichtliche Ankunftszeit mitteilt." Das sei für die Spediteure allerdings mit Investitionen in Hardware und in die Schulung der Fahrer verbunden. Sein Unternehmen habe diese Investition bereits getätigt. Joachim Schürings, bei Thyssenkrupp Steel Europe (TKSE) für den Frachteinkauf zuständig, begrüßte dieses Engagement: "Sobald Sie als Spediteur in der Lage sind, uns zu übermitteln, wo sich die Lkw gerade befinden, wann sie an Punkt A oder B ankommen, haben wir auch ganz andere Möglichkeiten, unser System weiterzuentwickeln." TKSE habe jetzt die Prozesse analysiert, sie abgebildet. "Jetzt geht es um den nächsten Schritt: die Prozessverknüpfung mit den anderen Teilnehmern der Logistikkette." Und Schürings deutete an, dass sein Unternehmen bestrebt ist, mehr flexible Zeitkorridore anzubieten als starre Zeitfenster. Zeitkorridore auch bei Vallourec? Das Thema Zeitfenstermanagement gewinnt an Bedeutung. "In unseren französischen Werken haben wir entsprechende Systeme mit guten Ergebnissen", sagte Florian Schwarz, zuständig für die Logistik beim französischen Stahlröhrenhersteller Vallourec Deutschland, der die Mannesmann-Werke in Deutschland übernommen hat. "Wir überlegen, ob wir nicht so etwas auch für die deutschen Werke einführen sollen, würden dann aber auch Korridorlösungen bevorzugen", so Schwarz. Stahlspediteure müssen also damit rechnen, dass solche digitalen Systeme an den Ladestellen weiter zunehmen. Mehr zum Thema finden Sie im Dossier Stahllogistik www.verkehrsrundschau.de/dossiers Die grössten Strassenbauprojekte in NRW In NRW drohen zahlreiche Baustellen und damit Staus Das Land Nordrhein-Westfalen (NRW) ist staugeplagt. Die Transporteure können ein Lied davon singen. Jetzt hat NRW-Verkehrsminister Michael Groschek "das größte Anti-Stau-Programm, das NRW je erlebt hat", angekündigt. Wird NRW damit staufrei, zumindest staufreier? "Jein", sagte Winfried Pudenz, Leiter der Abteilung Straßeninfrastruktur im Ministerium Groschek, auf dem Branchenforum Stahl. "Die nächsten Jahrzehnte werden von Baustellen und damit auch von Staus geprägt sein", machte er den anwesenden Logistikern keine große Hoffnung. Andererseits: "Von allen Maßnahmen zur Engpassbeseitigung, die im Bundesverkehrswegeplan vorgesehen sind, entfallen 37 Prozent auf NRW", sagte der Beamte und wies damit darauf hin, dass die Bekämpfung von Staus in NRW einen hohen Stellenwert habe.Als herausragende Beispiele für Projekte, die demnächst angegangen werden, nannte Pudenz die Rheinbrücke in Duisburg, die Sanierung von 32 Großbrücken auf der Sauerlandlinie A 45 und die Rheinbrücke in Leverkusen. Am Beispiel der letzten Brücke wurde jedoch deutlich, warum so schnell nicht mit weniger Staus zu rechnen ist: Denn die dann achtstreifige Brücke soll erst in neun Jahren, 2023, fertiggestellt sein. cd