Die neue Datenhoheit

Derzeit sorgt in der Automobilindustrie vor allem ein Thema für Schlagzeilen: der Umstieg auf den Elektroantrieb. Dabei findet hinter den Kulissen zeitgleich ein Umbau statt, der mindestens genauso interessant ist, nämlich die komplette Digitalisierung der Inbound-Logistik. So arbeiten alle großen OEMs (Original Equipment Manufacturers, die Hersteller) mit Hochdruck daran, die Versorgung ihrer Werke mithilfe von zentralen IT-Plattformen besser zu organisieren. Dabei orientiert man sich in Stuttgart, München und Wolfsburg am Vorbild Amazon. Das Ziel ist, die Produktionsversorgung genauso durchgängig digital zu steuern, wie das der Versandgigant in seinem Geschäft tut. In der Automobilindustrie entfaltet die Digitalisierung der Supply Chain allerdings auch eine Nebenwirkung, die vor allem die Dienstleister zu spüren bekommen dürften: Die OEMs stärken ihre Steuerungshoheit in der Logistik. Zu beobachten ist dieser Trend vor allem in Deutschland, wo sich die Automobilkonjunktur eintrübt. "Bei den Unternehmen, die mittel- und langfristig einen Rückgang erwarten, werden Umfänge der Inbound-Logistik wieder aus Beschäftigungsgründen in die eigene Hand genommen", berichtet Professor Klaus-Jürgen Schmidt vom Institut für Produktions- und Logistiksysteme, Saarbrücken. In anderen Ländern, zum Beispiel in China, handelten die OEMs anders und übergäben die Steuerung der Produktionsversorgung eher an externe Dienstleister, so Schmidt. Gründe für die Hersteller, das Zepter in der Logistik wieder in die Hand zu nehmen, gibt es reichlich: In Zeiten des Fahrermangels können Dienstleister nicht mehr so einfach eine Sonderfahrt organisieren, wenn es in der Lieferkette irgendwo hakt. Zudem kommt es häufiger zu Verzögerungen durch Verkehrsstörungen. Doch das Hauptargument für mehr zentrale Steuerung ist die zunehmende Komplexität im Automobilbau. Die Zahl der Modelle und Ausstattungsvarianten ist in den letzten Jahren geradezu explodiert, von den Bändern laufen kaum noch zwei gleiche Modelle. Gleichzeitig hat die Globalisierung die Warenströme extrem unübersichtlich gemacht. BMW zum Beispiel verbaut in seinen Werken weltweit jeden Tag eine Million Teile. Engpässe erkennen und gegensteuern Diese Materialflüsse lassen sich mit den alten Abläufen nicht mehr unter Kontrolle bekommen, deshalb arbeiten die Hersteller mit Hochdruck daran, ihre Lieferketten zu digitalisieren, das heißt, in einem einheitlichen elektronischen System abzubilden. BMW ist hier vorgeprescht und hat schon vor zwei Jahren die sogenannte Connected Supply Chain (CSC) eingerichtet, eine IT-Drehscheibe, über die die Lieferketten in 17 Ländern gemanaged werden. Hersteller, Zulieferer und Logistikdienstleister wie DHL können über eine Web-Schnittstelle nachvollziehen, wo sich eine Lieferung befindet und wann mit ihrem Eintreffen am Produktionsstandort zu rechnen ist - die Werte werden im 15-Minuten-Takt aktualisiert. Die BMW-Planer können in einer Art Cockpit erkennen, wo sich Engpässe anbahnen, und gegensteuern, um so Sonderfahrten zu verhindern. Nahezu alle Hersteller digitalisieren mit Hochdruck. Volkswagen hat ein ähnliches System namens Discovery eingeführt (steht für Digital Supply Chain Communication), das drei separate Altsysteme ersetzt, die Konkurrenz von Ford steuert den Teilefluss in sieben europäischen Ländern seit 2017 ebenfalls über eine Cloud-Software. "Durch die Digitalisierung wird mehr Verbindlichkeit und Transparenz geschaffen", fasst Jens Tilgner, Leiter Transportlogistik Material bei Audi, zusammen. "Unterstützt wird dieser Prozess sukzessive durch den Einsatz und die Entwicklung von KI-Lösungen (künstliche Intelligenz, d. Red.)". Natürlich endet die Digitalisierung nicht an der Rampe der Modulzulieferer (Tier1). Sie selbst arbeiten fieberhaft daran, sich mit ihren Geschäftspartnern zu vernetzen. ZF Friedrichshafen zum Beispiel ist dabei, seine 60.000 Lieferanten und Dienstleister an eine Plattform des Anbieters SupplyOn anzudocken. "In dem Maße, wie die OEMs die Supply Chain zwischen OEM und Systemzulieferer übernehmen, wird auch der Einfluss der Zulieferer auf die Supply Chain der Unterlieferanten zunehmen", so Marktkenner Schmidt. Dass Automobilhersteller die Produktionsversorgung intensiv steuern, ist freilich nicht neu. BMW zum Beispiel arbeitet seit über 20 Jahren nach diesem Prinzip. Die Münchner organisieren alle Transportprozesse ab dem Warenausgang der Zulieferer und wählen auch in der Regel die hier eingesetzten Dienstleister aus. "Ziel ist die Optimierung eines gesamten Netzwerks sowie das reibungslose, effiziente Zusammenspiel aller Versorgungsprozesse. Dies ist nach unserer Auffassung am besten durch den OEM selbst zu gewährleisten, der als einziger vollständige Transparenz über alle Versorgungsströme hat", erklärt Christian Kuriat, Leiter des Teams Strategie, Technologiesteuerung Logistik BMW Group. Die Vorteile haben ihren Preis Hintergrund: Das Rückgrat der Inbound-Logistik in der Automobillogistik bilden traditionell die Gebietsspediteure, die Teile regional bei Zulieferern einsammeln und Ladungen konsolidieren (LTL); Komplettladungsverkehre wickeln die Hersteller oft eigenverantwortlich ab. Daneben nutzen die OEMs typischerweise Cross-Docking-Zentren, in denen man Teile von Unternehmen, die mehrere Werke beliefern, so umsortiert, dass voll beladene Lkw zu den Standorten fahren. Organisiert wird das Cross Docking von Dienstleistern. Lange Zeit hat die Automobilindustrie nach dem Kanban-Prinzip gearbeitet, das heißt, Teile wurden über automatische Prozesse erst auf den Weg gebracht, wenn man sie in der Produktion benötigte. Dieser Ansatz wurde modernisiert. "Basis des Pull-Abrufs ist heute nicht mehr der tatsächliche Verbrauch eines Bauteils. Der Abruf erfolgt auf Basis eines langfristig stabilen Programms mit fester Auftragsreihenfolge", erklärt BMW-Mann Kuriat. Hintergrund: Gerade bei Premiumherstellern wird mehrere Monate, Tage und Stunden im Voraus festgelegt, welche individuellen Fahrzeuge vom Band laufen (Fachwort: build-to-order). Die nötigen Teile müssen dann sequenzgenau und just-in-time ans Band kommen. Elektronischer Datenaustausch ist für die Autoindustrie aber nichts Neues, hier gehört man seit jeher zu den Pionieren. Neu ist allerdings das Ausmaß der Digitalisierung: Ziel ist jetzt, jedes Teil zu verfolgen und jeden Geschäftspartner anzubinden. Vom Einrichten eines gemeinsamen Datenpools profitieren nicht nur die OEMs, sondern auch die Logistiker. Speditionen, die an das Volkswagen-System Discovery angebunden sind, berichten davon, dass sie jetzt Bedarfe 24 Stunden früher erkennen können und so mehr Zeit für Vorbereitungen bleibt. Diese Vorteile haben indes ihren Preis: Logistik- und Transportfirmen müssen ihre internen Systeme - sei es SAP oder eine Eigenentwicklung - mit den Plattformen verschalten, sodass Auftragsdaten automatisch übertragen werden und manuelle Arbeitsschritte entfallen. "Die große Herausforderung ist die Anbindung von Transportdienstleistern mit unterschiedlichen IT-Strukturen", so Audi-Manager Tilgner. Lohnt sich für Dienstleister die Mitarbeit an der Digitalisierung? Marktkenner Schmidt, der auch das Branchentreffen AKJ Automotive ausrichtet, sieht in der Digitalisierung der Supply Chain Vor- und Nachteile. "Zum einen werden die Logistikdienstleister austauschbarer, zum anderen können sich Dienstleister mit eigenen, intelligenten Integrationskonzepten einbringen." Mehr zum Thema im Dossier Automobillogistik www.verkehrsrundschau.de/dossiers In Kürze Auch und gerade wegen der immer komplexer werdenden Materialflüsse drängen Autobauer vermehrt darauf, das Zepter auch in der Inboundlogistik in die eigene Hand zu bekommen. Wichtiges Tool dafür sind Internetplattformen, über die die Transport- und Logistikdienstleister angebunden werden. Neue Inbound-Logistik: Was Spediteure jetzt tun müssen - Alle Automobilhersteller und Modulzulieferer bauen einheitliche IT-Plattformen zur Steuerung ihrer Supply Chain auf oder aus. Sie sind in der Regel cloudbasiert und ersetzen Altsysteme zur elektronischen Datenübermittlung. Schaffen Sie rechtzeitig Schnittstellen zu Ihren eigenen ERP- oder TMS-Systemen.- Die Anforderungen an Tracking & Tracing und an die Datenqualität insgesamt steigen. Positionsdaten etwa werden künftig in Echtzeit erwartet. Diese muss der Dienstleister liefern, entweder über klassische OBU in den Fahrzeugen oder über Apps, die auf dem Smartphone des Fahrers laufen. Transparenz wird auch bei Lagerbeständen erwartet. Investieren Sie gegebenenfalls in Tracking-Lösungen (etwa RFID).- Die Digitalisierung der Lieferkette eröffnet auch Transportdienstleistern neue Möglichkeiten, da sie Einblick in vorgelagerte Transportprozesse erhalten. Diese Informationen lassen sich nutzen, um besser disponieren zu können. Investieren Sie in Planungs- sowie Prognosesoftware (Predictive Analytics) und holen Sie Mitarbeiter mit dem passenden Know-how an Bord. OEMs erwarten in Zukunft, dass alle an der Lieferkette Beteiligten Optimierungsvorschläge machen!- Die Digitalisierung tröpfelt von oben nach unten durch die Lieferketten. Das bedeutet, auch Automobilzulieferer aus der zweiten oder dritten Reihe werden bald eigene IT-Plattformen einrichten. Erkundigen Sie sich frühzeitig, was für Systeme zum Einsatz kommen sollen. So gewinnen Sie Zeit, um die IT-Anbindung vorzubereiten.- Falls noch nicht geschehen: Automatisieren und digitalisieren Sie administrative Prozesse wie die Rechnungstellung. cg

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