Meldewahn in Europa

Wenn wir so weitermachen, können wir die EU gleich zusperren. Das hat nur noch wenig mit einem vereinten Europa zu tun." Oliver Kerschbaumer, Mitinhaber der Kerschbaumer Transporte in Miesbach, ist nur einer von vielen Unternehmern, die angesichts der neuen Entsendebestimmungen in Österreich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen.Kerschbaumer erhält Unterstützung von Georg Dettendorfer, Geschäftsführer der Dettendorfer Spedition in Nussdorf: "Das ist ein Rückschritt in die Steinzeit. Damit wird für kurzfristige Transporte eine intelligente Disposition, die für eine hohe Auslastung sorgt und damit ökonomisch und ökologisch sinnvoll ist, zunichte gemacht."Unternehmern platzt der KragenEine Meinung, zwei Unternehmer, die stellvertretend für viele andere stehen, die nur den Kopf schütteln können angesichts der Prozeduren, die Österreich seit Jahresanfang den Speditionen aufbürdet. Auslöser ist eine EU-Richtlinie aus dem letzten Jahr. Darin sind für die EU-Staaten bezüglich der Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen für entsandte Arbeitnehmer zwingende Bestimmungen festgelegt, die auch den Mindestlohn betreffen. Mittlerweile haben viele Länder Gesetze beschlossen oder feilen daran, um so die Brüsseler Vorgaben umzusetzen. Österreich kommt dieser Pflicht mit dem Lohn- und Sozialdumping-Bekämpfungsgesetz (LSD-BG) nach, das seit 1. Januar gilt.Danach müssen ausländische Fahrer eine Vielzahl von Unterlagen mit sich führen. Dazu gehört eine Entsendemeldung, die für jeden Transport ausgefüllt werden muss (zu den Details siehe Seite 42). Die Regeln gelten für grenzüberschreitende Transporte von und nach Österreich sowie für Kabotagetransporte. Hat der Lkw-Fahrer die Unterlagen nicht dabei, drohen Geldstrafen bis zu 20.000 Euro.Als "nicht praktikabel" bezeichnet Kerschbaumer, dass für jeden Transport eine Entsendebescheinigung ausgefüllt werden muss. "Die muss der Fahrer mitnehmen, doch was mache ich, wenn der Fahrer kurzfristig krank wird?", fragt er sich.Flexibilität enorm eingeschränktAuch Ralph Svehla halten die neue Regelung in Österreich auf Trab. Er ist Leiter der Zitzlsperger Spedition, eine Tochter der Spedition Eberl in Aiging bei Traunstein. "Unsere Flexibilität wird enorm eingeschränkt", beklagt Svehla. "Wir haben Kunden, für die wir acht bis zehn Entladestellen pro Tag anfahren.Doch häufig kennen wir noch nicht mal am Vortag die Entladestellen", schildert Svehla. Dann können er und seine Kollegen erst am frühen Morgen die Entsendebestätigung erstellen. "Da auf dem Formular nur fünf Abladeorte angegeben werden können, müssen wir zweimal eine solche Sendebestätigung ausfüllen", beklagt Svehla. "Alleine für das Ausfüllen der beiden Bescheinigungen benötigt ein Mitarbeiter bei uns bis zu 40 Minuten." Dabei muss er auch angeben, von wann bis wann das Fahrzeug sich wo befindet. "Eine so detailgenaue Angabe ist ein Unding: Das kostet Zeit ohne Ende", sagt Svehla.Nicht besser ergeht es Dettendorfer. Auch in seinem Unternehmen sind verschiedene Mitarbeiter beschäftigt, die Unterlagen zu sammeln. "Es muss das Lohnbüro eingebunden werden, um den Arbeitsvertrag mitzugeben. Die Buchhaltung muss die Überweisungsbelege als Zahlungsnachweis heraussuchen. Und dann guckt sich das Ganze niemand an", befürchtet Dettendorfer, dass die Arbeit für die Katz ist. Wird regelmäßig ein Kunde angefahren, gibt es immerhin die Möglichkeit einer Sammelmeldung, die nur einmal auszufüllen ist. "Dort sind aber alle Fahrer und ihre Löhne aufgeführt", sagt Dettendorfer. Er hegt Zweifel, ob das nicht gegen den Datenschutz verstößt, "ganz abgesehen davon, dass wir aus nachvollziehbaren Gründen nicht die Gehälter unserer Mitarbeiter untereinander veröffentlichen wollen."Bislang mussten die Spediteure trotz der neuen Anforderungen keine Aufträge ablehnen. Aber Transporte könnten teurer werden. "Normalerweise ist es so, dass wir den zusätzlichen Verwaltungsaufwand den Kunden in Rechnung stellen müssten", sagt Svehla. Noch hat das Unternehmen eine solche Regelung nicht umgesetzt, aber es gibt Überlegungen, so der Spediteur, diese Kosten zusätzlich zu berechnen. Dettendorfer sieht die Gefahr, dass Laderaum knapp werden könnte, sollten sich osteuropäische Unternehmen aus dem Markt zurückziehen. Denn alle Dokumente müssen entweder in deutscher oder englischer Sprache vorliegen. Für osteuropäische Unternehmen bedeutet dies, sie müssen beispielsweise die Arbeitsverträge übersetzen lassen. Ein Mehraufwand, den so mancher Anbieter scheuen könnte."Bürokratiewahnsinn hoch drei"Auch bei den Branchenverbänden sorgt die Regelung in Österreich für Mehrarbeit. "Bei uns haben sich seit Jahresbeginn 100 bis 150 Unternehmen gemeldet mit Fragen oder Beschwerden", sagt Sebastian Lechner, Geschäftsführer des Landesverbandes Bayerischer Transport- und Logistikunternehmen (LBT). Seiner Ansicht nach muss sich etwas an dem Prozedere ändern: "Zahlreiche unserer Mitgliedsunternehmen wickeln pro Tag Dutzende Verkehre von und nach Österreich ab. Für jeden Transport eine Entsendebescheinigung auszufüllen, ist nicht zumutbar."Nicht anders urteilt man im Landesverband Bayerischer Spediteure (LBS). "Insgesamt ist mit der Anmeldung für unsere Mitglieder ein Bürokratiewahnsinn hoch drei verbunden", macht Edina Brenner, Geschäftsführerin des LBS, keinen Hehl daraus, was sie von den Regeln hält. Wobei sie mit dem österreichischen Mindestlohn an sich kein Problem hat: "Der Stundenlohn des bayerischen Tarifvertrages liege seit 1. Januar 2017 für Fahrer in der untersten Stufe bei 12,96 Euro." Und damit deutlich über Österreichs Mindestlohn.Im Deutschen Speditions- und Logistikverband (DSLV) kennt man die Probleme, die die je nach Land unterschiedlichen Regeln den Spediteuren machen. Helmut Große, im DSLV zuständig für den internationalen Straßengüterverkehr, weist jedoch darauf hin, dass den EU-Ländern die Hände gebunden seien. Denn Absatz 23 der Richtlinie 96/71/EG über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen besagt: "Die Mitgliedstaaten haben geeignete Maßnahmen für den Fall der Nichteinhaltung dieser Richtlinie vorzusehen."Große sieht keinen Ansatzpunkt, um den nationalen Alleingängen kurzfristig Einhalt zu gebieten. Schließlich gehe es jedem Mitgliedstaat darum, durch Verfahren zu gewährleisten, dass sich alle Teilnehmer im Güterverkehrsmarkt an die durch die EU-Entsenderichtlinie festgelegten Bestimmungen halten. Von Meldeportalen erhoffen sie sich etwa, dass gebietsfremde Unternehmen besser kontrolliert werden können. "Solange nicht aus Brüssel eine Ansage kommt, was dabei legitim ist und was nicht, macht jeder Mitgliedstaat sein eigenes Ding", erklärt Große. Der DSLV fordere in diesem Zusammenhang, dass die EU-Entsenderichtlinie unionsweit einheitlich ausgelegt wird und dabei neben Transitfahrten die grenzüberschreitenden Verkehre ausgenommen werden.Doch von Einheitlichkeit ist man in Europa weit entfernt. So gibt es auch in Italien eine neue Meldepflicht für Kabotage-Transporte, die der Bundesverband Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL) als ein "faktisches Kabotage-Verbot" bezeichnet. Es werde unmöglich, kurzfristig entsprechende Transportaufträge anzunehmen, weil die zwingende Anmeldung bis 24.00 Uhr des Vortages eine vielfach unüberwindbare Markthürde darstelle. Der Transportverband hat in einem Schreiben an die EU-Kommission in Brüssel auf die Situation hingewiesen und das Bundesverkehrsministerium in Berlin um Unterstützung gebeten.Nach Auffassung des BGL verstößt die italienische Regierung gegen Artikel 8 der EG-Verordnung 1072/2009 "über gemeinsame Regeln für den Zugang zum Markt des grenzüberschreitenden Güterkraftverkehrs", in dem den Verkehrsunternehmen ein diskriminierungsfreier Zugang zum Kabotagemarkt zugesichert wird. Angesichts der neuen Kabotage-Bestimmungen seit dem 26. Dezember 2016 bat der BGL die EU-Kommission, "unverzüglich gegen diese Praxis vorzugehen".Ob der Einspruch in Brüssel etwas bewirkt, ist noch nicht absehbar. 2015 und 2016 hatte die EU-Kommission bereits Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland und Frankreich eingeleitet. Sie hatte Bedenken gegen die Mindestlohn-Ausweitungen auf Arbeitnehmer-Entsendungen. Eine systematische Anwendung der Mindestlohngesetze auf alle Verkehrsleistungen stelle eine unverhältnismäßige Einschränkung des freien Warenverkehrs und der Dienstleistungsfreiheit dar.Bei der EU-Kommission gibt man sich zurückhaltend bezüglich der verschärften Entsendevorschriften in Italien und Österreich. Man stehe in Kontakt mit den italienischen Behörden, hieß es auf Anfrage. Mehr will man aber nicht sagen. Auch nicht zu den Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland und Frankreich. "Das sind offene Verfahren, die wir nicht näher kommentieren", heißt es in einer schriftlichen Stellungnahme.Kein Kommentar auch dazu, was Brüssel bei der Überarbeitung der EU-Entsenderichtlinie speziell für den Straßengütertransport plant. Nach geltendem Recht erhalten Arbeitnehmer, die Aufträge in einem anderen EU-Land ausführen, mindestens den dort üblichen Mindestlohn. Diesen Grundsatz, auf den sich die Mitgliedstaaten 1996 verständigt hatten, will die EU-Kommission abschaffen. Stattdessen sollen entsandte Arbeitnehmer den vollen Tariflohn einschließlich Zulagen bekommen. Nach spätestens zwei Jahren sollen die entsandten Arbeitnehmer den lokalen Arbeitskräften vollständig gleichgestellt sein, also auch im Hinblick auf den Kündigungsschutz und andere Rechte.Fast alle osteuropäischen EU-Staaten und auch Dänemark hatten dagegen Beschwerde eingelegt. Sie glauben, dass die Brüsseler Behörde ihre Kompetenzen überschreitet und sich in die Lohngestaltung der Mitgliedstaaten einmischt. Ob die Änderungen am Ende auch im Verkehrsgewerbe gelten, ist sowieso unklar. Die EU-Kommission hatte in dem Reformvorschlag im März 2016 darauf verwiesen, dass diese Regelung für den Straßengütertransport anders aussehen könnte.Kommt im Sommer eine Ansage der EU?Derzeit beraten das Europaparlament und der EU-Ministerrat über die Vorschläge zur Reform der EU-Entsenderichtlinie. Sie sind Teil des als "Road Package" bezeichneten Pakets, dessen Veröffentlichung sich immer wieder verzögert. Aktueller Stand der Dinge: Bis zum Sommer sollen die Ideen präsentiert worden sein.Zurück nach Österreich: Dort hat man sehr wohl registriert, dass die starren Regeln dem mobilen Transportgewerbe große Probleme bereiten, denn aus kaum einer anderen Branche wurden so viele Fragen und Proteste an das österreichische Bundessozialministerium gerichtet.Wobei die deutschen Unternehmen im Vergleich zu vielen anderen ausländischen Unternehmen einen wichtigen Vorteil haben: Die mitzuführenden Unterlagen wie zum Beispiel die Arbeitsverträge müssen entweder in englischer oder deutscher Sprache formuliert sein. Das gilt natürlich auch für deutsche Unternehmen, die in Osteuropa Niederlassungen haben. "Wir gehen davon aus, dass in einem internationalen Markt wie der Transportbranche die meisten Verträge sowieso auf Englisch vorliegen", sagt Sascha Obrecht, Kabinettsmitarbeiter im Bundessozialministerium. Ob dem tatsächlich so ist, kann man in Zweifel ziehen. Aber sollte dieser Flickenteppich an unterschiedlichen Bestimmungen sich noch stärker in Europa verbreiten, kommen die Unternehmen nicht umhin, immer mehr Dokumente in englischer Sprache zu verfassen.Österreich reagiert auf die KritikKein Verständnis hat man bei den Speditionen, dass auch die Kunden und die Abladeorte exakt angegeben werden müssen. Hier macht Obrecht den Unternehmen keine Hoffnungen auf Besserung: "Wir benötigen die Angaben, um den Fahrtweg zu erkennen, der für die Ermittlung des Mindestlohnes notwendig ist", so Obrecht. Immerhin kündigt er an, dass sein Haus an einem Faktenblatt arbeitet, dass den Transportunternehmen die Dokumentation erleichtern soll. Ob es dort nur Hinweise gibt oder auch die eine oder andere spürbare Erleichterung, wollte Obrecht noch nicht sagen.Doch dass die Österreicher einen Rückzieher machen und wie die Italiener nur Kabotagetransporte kontrollieren, erscheint unwahrscheinlich. "Nach unserer Auffassung gilt die Entsenderichtlinie nicht nur für Kabotagetransporte, sondern auch für Quellverkehr von Österreich und Zielverkehr nach Österreich", stellt Obrecht klar. Sowohl die Verbandsvertreter wie die Unternehmen haben bislang kaum von Kontrollen gehört. Zuständig ist in Österreich dafür die Finanzpolizei, die dem Finanzministerium angeschlossen ist. "Selbstverständlich kontrollieren wir", sagt Johannes Pasquali, Sprecher des Ministeriums. Auf die Frage, ob und in welcher Höhe bereits Strafen ausgesprochen wurden, antwortet er ausweichend: "Es kommt immer auf den Einzelfall an, aber im Vordergrund steht der beratende Charakter." Das hört sich danach an, als ginge die Behörde noch kulant mit Verstößen um.Entscheidender ist letztlich, ob es gelingt, in der EU möglichst einheitliche Regelungen durchzusetzen. Die Politik tut sich mit dem derzeitigen Verfahren jedenfalls keinen Gefallen, wenn Unternehmer wie Kerschbaumer oder Dettendorfer massive Zweifel an dem Binnenmarkt äußern.Hinweis: In der VerkehrsRundschau 5/2017 lesen Sie, welche Entsenderegeln in weiteren EU-Staaten von den Transportunternehmen zu berücksichtigen sindMehr zum Thema finden Sie im Dossier Mindestlohn www.verkehrsrundschau.de/dossiersLoi Macron: Was Frankreich fordert"Riesenaufwand durch das neue Arbeitszeitgesetz""Das neue französische Arbeitsgesetz macht einen Riesenaufwand, den keiner bezahlt. Im Endeffekt bleiben wir auf den Mehrkosten sitzen." So viel steht für Andreas Alt fest, Geschäftsführer der Spedition Hawa in Kehl. Hawa ist als Teil- und Komplettladungsunternehmen in ganz Europa und damit auch in Frankreich tätig. Hintergrund für seinen Ärger ist das neue Gesetz "Loi Macron", das zum 16. Juli 2016 in Kraft getreten ist. Es sieht vor, dass alle Unternehmen, die in Frankreich transportieren, sich dort registrieren lassen und einen Mindestlohn (SMIC) zahlen. Er gilt auch für ausländische Lkw-Fahrer, die dort unterwegs sind.Nicht die Mindestlohn-Höhe ist für Alt das Problem, sondern der bürokratische Aufwand. Für jeden seiner 25 Fahrer müsse er nun eine Entsendebescheinigung ausfüllen - unter anderem mit Angaben zum entsandten Arbeitnehmer, Arbeitsvertrag, Bruttoarbeitslohn pro Stunde und Einzelheiten zu firmenspezifischen Spesen. Und alle sechs Monate müssen diese Angaben erneut gemacht werden. Zusätzliche Hürde war für ihn der in Frankreich gesetzlich vorgeschriebene "Repräsentant". Da Alt jedoch in Frankreich mit einem langjährigen Partner zusammenarbeitet, bei dem er gegen Entgelt alle notwendigen Unterlagen hinterlegt und der als sein Vertreter gegenüber den französischen Behörden auftritt, konnte er dieser Anforderung nachkommen.Unterm Strich sieht er das neue Arbeitsgesetz als Wettbewerbsnachteil. Zudem gebe es im Moment weniger Frachtführer, die Frankreich-Verkehre fahren, auch weil sie der Mehraufwand abschrecke. eh