Krieg der Sterne

Nicht wenige Actros-Kunden dürften künftig beim Studieren der dicken Verkaufshandbücher ins Grübeln kommen. Zumindest, wenn der neue Sternenlaster in der 450-PS-Klasse fahren soll. Denn hier stellte Daimler seinem 12,8 Liter großen OM-471-Reihensechszylinder eine neue Einstellung des OM 470 zur Seite. Das um 2,1 Liter kleinere Aggregat bietet mit seinen 455 Pferdestärken sogar sechs PS mehr und liefert mit 2200 Newtonmetern ab 1100 Touren exakt die gleichen Drehmomentwerte wie der größere der beiden Sternenkrieger. Oder auch nicht, aber dazu später mehr ... Zunächst sammeln wir weitere Argumente für den kleinen Kämpfer: Er ist um 150 Kilogramm leichter und dürfte auch bei der Kaufpreisverhandlung zu einer etwas kleineren Summe beitragen. Aber kann er auf der Straße dem bewährten 12,8-Liter-Common-Railer den Rang ablaufen? Das untersuchten wir während erster Probefahrten im verkehrsarmen, aber umso bergreicheren Portugal. Technisch ein Duell auf Augenhöhe Rein vom Stand der Technik her herrscht Patt zwischen den beiden Kontrahenten. Mercedes hatte sich zur IAA 2016 auf die Suche nach dem letzten Tropfen Verbrauchseinsparung begeben und will den Diesel-Durst des OM 470 um bis zu fünf, beim größeren Sechszylinder sogar um satte sechs Prozent gesenkt haben. Dafür reduzierten die Entwickler unter anderem die Reibungskräfte im Zylinderkopf und in den Getrieben. Zudem senkte man den Anteil der Abgasrückführung auf ein Minimum. Mercedes braucht die AGR Dass man nicht wie Konkurrent Scania ganz auf die verbrauchstreibende Abgasrückführung (AGR) verzichtet, begründet Mercedes mit dem internationalen Einsatz seiner Motoren. Manche Abgasvorschrift sei ohne Abgasrückführung nicht mehr zu erfüllen. Optimiert hat Daimler auch die Aerodynamik des Actros, wobei man bis ins kleinste Detail vordrang: 0,01 l/100 km soll die veränderte Position der Dachantenne sparen. Ebenfalls ein paar Zehntel verspricht Mercedes durch das Wegfallen der äußeren Spoilerlippe unter dem Frontstoßfänger - übrigens das einzige optische Unterscheidungsmerkmal des "neuen" Actros zu seinem Vorgänger. Mehr, nämlich 0,5 Prozent, soll die neue Hinterachskonstruktion einsparen, die Mercedes ab Juli serienmäßig in allen Actros mit OM 470 und 471 verbauen wird. Per Drosselklappe wird die Ölfüllung im Differenzial exakt auf den aktuellen Bedarf angepasst. So entstehen niedrigere Planschverluste, was sich positiv auf den Dieselverbrauch auswirkt. Subjektiv lassen sich beim Fahren nur geringe Unterschiede feststellen. Der kleinere OM 470 entwickelt ein dumpferes Verbrennungsgeräusch, das keinesfalls unangenehmer, aber eben anders klingt. Dass er seine Arbeit leiser verkündete, schreiben wir der besser gedämmten BigSpace-Kabine zu, über die der 1846-Testwagen verfügte. Der 1845 trug dagegen das aerodynamisch optimierte, aber weiterhin schlechter gegen Geräusche gedämmte StreamSpace-Fahrerhaus. Schneller über den Berg Kabinenunabhängig ist das Phänomen der beim Anfahren rubbelnden Kupplung, die uns bei beiden Testwagen störte. Umso fühlbarer sind die Unterschiede an der ersten Steigung der Teststrecke. Hier zieht der größere Motor neben mehr Hubraum ein weiteres Ass aus dem Ärmel: Toptorque. Dahinter steht eine Drehmomenterhöhung um 200 Newtonmeter im zwölften Gang. Statt 2200 kommen so 2400 Nm an der Hinterachse an. Auf diese Weise beißt sich der OM 471 entschlossener an Steigungen fest und überwindet mehr Höhenmeter, ohne dass die verbaute Powershift-Schaltung einen Gang zurückschalten muss. Der OM 470 benötigt hier höhere Drehzahlen. Nur wenn er an Steigungen schon deutlich vor der Elektronik eine Rückschaltung einleitete, hat unser Testfahrer eine Chance, dass sich der Abstand zum vorausfahrenden 1845 nicht vergrößert. Dann arbeitet der Motor allerdings jenseits von 1500/min - von spritsparendem Fahren kann da dann keine Rede mehr sein. Bergab wurden die Test-Lkw von Daimlers Sekundär-Wasserretarder gebremst, dessen Kauf wir empfehlen. Schließlich bringt er einen deutlichen Sicherheits- sowie Komfortgewinn und schont Antriebsstrang und Betriebsbremse. Erst recht übrigens, wenn man sich für den kleineren Motor entscheidet. Seine verstärkte Motorbremse hat den 40 Tonnen maximal 462 PS bei lärmenden 2300/min entgegenzusetzen. Der hubraumstärkere OM 471 im 1845 verzögert bei gleicher Drehzahl immerhin mit 558 PS. Das sind fast 100 PS mehr und so ein weiterer Grund dafür, dass der große Krieger am Ende seine Hoheit im Sternen-Imperium verteidigen kann. Der Actros 1845 bleibt nicht zuletzt dank Toptorque die souveränere Motorisierung. Das kleinere Aggregat im 1846 ist die richtige Wahl, wenn es auf jedes Kilogramm Nutzlast ankommt - dann aber unbedingt mit Retarder. Alle Tests und Fahrberichte für Abonnenten www.verkehrsrundschau.de/testdatenbank Connectivity Das Smartphone ins Fahrerhaus holen Das für den Actros neu erhältliche Infotainment-System Apple CarPlay hinterließ bei uns gemischte Gefühle. Einerseits würden wir es allein deswegen bestellen, weil man damit das Audiosystem über einen spontan reagierenden Touchscreen einstellt und man sich nicht weiter mit dem fummeligen Handling des normalen Audiosystems (das weiter im Programm bleibt) herumschlagen muss. Außerdem ist es für den Fahrer durchaus charmant, eigene Apps, Kontakte, die Lieblingsmusik oder Podcasts vom Smartphone auf den Cockpitbildschirm spiegeln zu können, zumal die Handhabung einfach und intuitiv gelingt.Auch die Sprachsteuerung ist möglich, deren Sicherheitsvorteil Mercedes hervorhebt. Ob davon allerdings in der Realität viele Fahrer Gebrauch machen werden, wagen wir zu bezweifeln. Und dann hat man unterwegs seine Augen plötzlich mehr auf dem Bildschirm als auf der Straße. Wir waren bei den Testfahrten zumindest regelmäßig abgelenkt, auch weil die Apple-Spracherkennung Kommandos beim ersten Mal oft nicht verstand. bj