Gerichte bremsen Lkw-Kartell-Kläger

Ein Jahr nach dem Start des größten Lkw-Kartell-Prozesses in München hat eine Klagewelle deutschlandweit die Gerichte überschwemmt. Zuletzt erwiesen sich einige Verhandlungssäle als Wellenbrecher. Aktuelles und bedeutendstes Beispiel: Ende September verwies der Bundesgerichtshof (BGH) die Schadenersatzforderung des Bauunternehmens Matthäi an das Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart zurück, weil die Vorinstanz formale Fehler gemacht habe. Die Stuttgarter Richter müssen den Fall nun erneut verhandeln und dabei genauer die im Kartellverfahren der EU-Kommission 2016 festgestellten Umstände würdigen. Gemäß dem Bußgeldbescheid aus Brüssel hatten zwar die Hersteller MAN, Daimler, Volvo/Renault, DAF, Iveco und Scania von 1997 bis 2011 untereinander Informationen über Bruttolistenpreise ausgetauscht. Die EU-Kommission hatte aber die Frage offengelassen, ob Lkw-Abnehmern überhaupt dadurch ein Schaden entstand. BGH: Schadenvermutung genügt nicht In dem Verfahren vor dem obersten deutschen Zivilgericht in Karlsruhe waren alle anderen Kartellanten dem direkt beklagten Lkw-Hersteller Daimler beigetreten, der Revision gegen ein früheres Urteil des OLG Stuttgart eingelegt hatte: Im April 2019 hatte Matthäi noch recht bekommen, dass grundsätzlich ein Schadenersatzanspruch bestehe. Es hieß, die Lkw-Käufe seien in dem Fall zeitlich von dem Kartellverstoß betroffen und es sei wahrscheinlich, dass dem Kläger ein Schaden entstanden sei, weil ein Kartell in der Regel der Gewinnsteigerung der beteiligten Firmen diene. Doch diese allgemeine Vermutung zu den wirtschaftlichen Auswirkungen eines Kartells ohne einen "Erfahrungssatz" genügten dem BGH nicht. Das OLG Stuttgart könne nicht ohne Weiteres annehmen, dass die Gespräche zwischen den Lkw-Herstellern naturgemäß zu überhöhten Preisen für die Abnehmer führten. Gleichzeitig deutete der Vorsitzende Richter Meier-Beck Zweifel an, dass es in dem Kartell tatsächlich nur um einen Informationsaustausch ging. Weil es der erste Fall aus dem Lkw-Kartell ist, der in Karlsruhe entschieden worden ist, kann sich die Entscheidung aus Juristensicht auf hunderte weiterer Schadenersatzprozesse auswirken. Denn analog zu den Richtern aus Stuttgart haben Gerichte etwa in Hannover, Köln oder Dortmund in sogenannten Grundurteilen zunächst die Schadenersatzansprüche von Transport- und Speditionsunternehmen dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt und die Frage, in welcher Höhe ein Schaden entstanden ist, der Klärung im anschließenden Betragsverfahren überlassen. Die schriftlichen Entscheidungsgründe des BGH liegen noch nicht vor. Auch wenn es formaljuristisch nun einen weiteren Anlauf braucht, um die Forderung des Bauunternehmens Matthäi durchzusetzen, geht der Anwalt Peter Gussone letztlich von einem Urteil zugunsten seines Mandanten aus. Landgericht München geht anderen Weg Anders geht das Landgericht München vor, wo auch hunderte Lkw-Abnehmer gegen das Hersteller-Kartell geklagt haben: Sachverständigengutachten sollen vor einer Entscheidung nicht nur klären, ob den Klägern ein Schaden entstanden ist, sondern auch, wie hoch die Preisaufschläge jeweils waren. Ähnlich will das Landgericht München in anderen anhängigen Verfahren vorgehen. Es verzichtet also bewusst darauf, zunächst per Grundurteil nur festzustellen, dass die Schadenersatzansprüche bestehen. Denn ein solches kann jahrelang durch die Instanzen gehen, bis über die Höhe des Kartellschadens auch nur gesprochen wird. Rechtliche Hürden für Sammelklagen Schneller geht es für die Lkw-Kartell-Kläger in der bayerischen Landeshauptstadt dennoch nicht unbedingt. Darüber hinaus gibt es rechtliche Hürden. Nach dem ersten großen Sammelverfahren von Prozessfinanzierer Financialright im Februar könnte daran auch der geplante Schadenersatzprozess der Deutschen Bahn, der Bundeswehr und von rund 200 Speditionsunternehmen scheitern. Termin für die nächste Verhandlung dieses Falles am Landgericht München ist der 26. November 2020. Die Kläger fordern von den Lkw-Herstellern insgesamt 385 Millionen Euro Schadenersatz. Für den Gerichtsprozess hat die Deutsche Bahn eine Tochterfirma gegründet und als Inkassodienstleisterin registriert. Sie hat sich Schadenersatzansprüche nicht nur von Bahn-Tochtergesellschaften wie Schenker, sondern auch von Konkurrenten wie dem Logistikkonzern Kühne + Nagel, vielen anderen Transport- und Handelsunternehmen und der Bundeswehr abtreten lassen und tritt im Prozess jetzt als alleinige Klägerin auf. Das Landgericht München sah bereits zum Prozessauftakt im Mai die Gefahr, dass diese Bündelung von konzerneigenen und externen Ansprüchen zu Interessenkonflikten führt und damit wie im ersten Sammelverfahren von Financialright gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz verstößt. Eine Sprecherin wollte auf Anfrage der Verhandlung zum Ende des nächsten Monats nicht vorgreifen und verwies darauf, dass die Deutsche Bahn genügend Zeit gehabt habe, etwas an ihrem Klagemodell zu ändern. Financialright ist in Berufung gegangen Was genau war im Fall von Financialright geschehen? Die mit Abstand größte deutsche Schadenersatzklage gegen die Kartellanten hatte das Landgericht München am 7. Februar 2020 aus formalen Gründen abgewiesen. Rund 3000 Speditionen und Transportunternehmen hatten damals ihre Forderungen an die Inkassofirma abgetreten, die dann als alleiniger Kläger aufgetreten war und samt Zinsen 867 Millionen Euro für 84.000 angeblich überteuert verkaufte Lkw verlangte. Diese Form des Masseninkassos verstieß nach dem Urteil des Münchner Landgerichts jedoch in mehreren Punkten gegen das Rechtsdienstleistungsgesetz. Die Abtretung der Ansprüche sei nichtig. Unzulässig sei außerdem, dass die Klage Forderungen nach Schadenersatz für völlig verschiedene Lastwagen bündele, vom Sattelschlepper bis zum Betonmischer, mit verschiedenen Motoren und Ausstattungen, von verschiedenen Herstellern, von Kunden in verschiedenen Ländern gekauft, zum Teil sogar Jahre vor Einführung des Euro. Alles in einen Topf zu werfen gefährde die Interessen der Kläger mit guten Chancen. Zudem drohe ein Interessenkonflikt, so das Münchner Landgericht: Financialright kassiere bei Erfolg ein Drittel der Schadenersatz- oder Vergleichszahlungen und könnte aus Wirtschaftlichkeitserwägungen auch Ziele verfolgen, die den Interessen von Lkw-Käufern zuwiderliefen. Financialright hatte nach der Klageabweisung Berufung eingelegt. Der Inkassodienstleister glaubt, seine Kompetenzen nicht zu überschreiten, und will deshalb weiter für seine Mandanten kämpfen. In nächster Instanz wird sich voraussichtlich der BGH in Karlsruhe mit dem Fall beschäftigen. Bis zu einem Urteil kann es Jahre dauern. Derweil hängt eine zweite Financialright-Sammelklage mit einem Streitwert von über 541 Millionen Euro beim Münchner Landgericht in der Warteschleife. Klagealternativen in den Niederlanden Auch in niederländischen Gerichten türmen sich die Aktenberge, weil immer mehr Unternehmen ihre Schadenersatzansprüche gegen das Lkw-Kartell durchsetzen wollen. Zum Beispiel plant der europäische Prozessfinanzierer LitFin derzeit eine weitere Sammelklage gegen den dort ansässigen Hersteller DAF. Er wirbt wegen der großzügigeren niederländischen Verjährungsregeln aktuell um Unternehmen, die vor allem in den frühen Jahren des Kartells Lkw gekauft und noch nicht geklagt haben. Auch Unternehmen aus Deutschland können mitmachen. Für sie biete der Gerichtsstand in den Niederlanden einige Vorteile im Vergleich zu Deutschland. Sammelklagen für eine Vielzahl von Geschädigten sind demnach in den Niederlanden bereits seit Langem anerkannt. Dort bestehe daher kein Risiko einer Klageabweisung aufgrund unzulässiger Abtretungen, wie im Fall von Financialright. Zudem werden in den Niederlanden laut LitFin gleiche Verfahren weiter gebündelt, sodass alle Kläger zusammen ein deutlich stärkeres Gewicht gegenüber den Kartellanten hätten. Der Prozessfinanzierer mit Sitz in Prag klagt nach eigenen Angaben stellvertretend für Unternehmen mit insgesamt mehr als 10.000 Lkw am Gerichtsstand in den Niederlanden Daneben hat mit MKB-Claims ein weiterer Spezialist für Sammelklagen kürzlich ein Gerichtsverfahren gegen DAF eingeleitet und Schadenersatzansprüche in Höhe von 410 Millionen Euro für rund 3000 Firmen geltend gemacht. Der in den Niederlanden ansässige Lkw-Hersteller haftet wie die anderen gesamtschuldnerisch für alle Mitglieder des Lkw-Kartells. DAF kann wiederum den Schaden, den er für andere Marken zahlen muss, zurückfordern. Ob die Lkw-Kartell-Klagewelle in den Niederlanden anders als hierzulande ungebremst ihr Ziel erreicht, bleibt abzuwarten. Mehr zum Thema finden Sie unter #Wirtschaftsrecht www.verkehrsrundschau-plus.de/hashtag In Kürze Großvolumige Klagen gegen das Lkw-Kartell geraten ins Stocken, nachdem im Frühjahr das Sammelverfahren von Financialright für rechtlich unzulässig erklärt wurde. Nun verlangt das höchste deutsche Zivilgericht in einem anderen Fall konkrete Schadenbeweise. Und auch der Deutschen Bahn droht eine Klageabweisung. Fast 400 Klagen in Stuttgart und München anhängig Das Lkw-Kartell bestand laut der EU-Kommission von 1997 bis 2011. Die Hersteller MAN, Daimler, DAF, Iveco, Volvo/Renault und Scania hatten jahrelang Preise abgesprochen und dafür im Sommer 2016 eine Rekordgeldbuße von fast vier Milliarden Euro aufgebrummt bekommen. Die EU-Kommission hatte aber die Frage offengelassen, ob deren Kunden tatsächlich ein Schaden entstanden ist. Deshalb klagen bundesweit tausende Unternehmen, die zwischen 1997 und 2011 Lkw bei den sieben Herstellern gekauft oder geleast haben, um ihr Geld zurückzubekommen.Hierzulande passiert das vor allem in Stuttgart und München, wo Daimler beziehungsweise MAN jeweils ihren Konzernsitz haben. Am Stuttgarter Landgericht sind bislang 285 Schadenersatzklagen zum Lkw-Kartell eingegangen, die sich fast alle zumindest auch gegen Daimler richten. Beim Landgericht München sind rund 100 Verfahren dazu anhängig. ag

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