Wirtschaft im Winterschlaf

Es kann im Januar bitterkalt werden in Moskau. Doch selbst Temperaturen von minus 25 Grad wären nur ein Randthema für deutsche Transport- und Logistikunternehmen, die im Russlandgeschäft aktiv sind. Ihnen macht eher die wirtschaftliche Eiszeit zu schaffen, die länger anzudauern droht als der russische Winter. Die russische Wirtschaft steckt in einer tiefen Krise und mit ihr der Warenaustausch zwischen dem Riesenreich in Osteuropa und den mitteleuropäischen Volkswirtschaften. Die Gründe, warum die weltweit achtgrößte Volkswirtschaft vom Wachstumspfad abgekommen ist, sind mehrschichtig. "Der Ölpreis spielt eine entscheidende Rolle", sagt Jens Böhlmann, Leiter der Kommunikationsabteilung der deutsch-russischen Außenhandelskammer in Moskau. Wegen sinkender Einnahmen aus dem Verkauf von Öl und Gas fallen Staat und Energiesektor als wirtschaftliche Impulsgeber aus. Und die angestrebte Modernisierung und Diversifizierung der russischen Wirtschaft ist Präsident Putin und seiner Regierung noch nicht gelungen. Dazu kommen die Sanktionen der EU gegen Russland als Folge der Ukraine-Krise und die russische Gegenreaktion. Die entscheidende Rolle spielt nicht das Embargo bestimmter Güter, sondern die Strafen gegen den russischen Finanzsektor. Die russischen Banken, so Böhlmann, können sich nicht an den internationalen Kapitalmärkten refinanzieren - was die Kreditvergabe behindert und den privaten Sektor weiter schwächt. 10 bis 40 Prozent Mengenrückgänge Die Folge der Krise: Transportunternehmer berichten gegenüber der Verkehrs-Rundschau je nach Branche über Rückgänge in einer Größenordnung von 10 bis 40 Prozent auf den Strecken nach Russland. Lediglich einige Spezialverkehre stehen besser da. Fast noch härter trifft viele Unternehmen die rasante Abwertung des Rubels - inklusive erheblicher Kursschwankungen. "In allererster Linie machen die Wechselkurse unseren Mitgliedern zu schaffen" sagt AHK-Experte Böhlmann. Mit einer kurzfristigen Erholung rechnet kaum jemand. "Für die nächsten zwei Jahre sehe ich wenig wirtschaftliche Stabilität", sagt Dieter Bock, Unternehmensberater und Russsland-Experte. Davon weiß auch Mirco Nowak ein Lied zu singen. Nowak ist Geschäftsführer der TDN Großhandels GmbH (Luno-Gruppe), Hamburg/Moskau, die seit mehr als 20 Jahren als Beratungsunternehmen und Händler im Russland-Geschäft aktiv ist. Beispielsweise beliefert Luno russische Gesundheitseinrichtungen mit medizinischen Geräten. Die Geschäfte werden auf Rubelbasis fakturiert und es ist kaum abzusehen, was der bei Vertragsschluss vereinbarte Kaufpreis bei Fälligkeit der Rechnung noch wert ist. "Wir können momentan an den Ausschreibungen nicht teilnehmen. Es ist zu riskant, man kann einfach nicht kalkulieren", sagt Nowak, der ehrenamtlich das Moskauer Chapter der Bundesvereinigung Logistik leitet. Auch die deutsche Automobilindustrie stöhnt unter den Wechselkursen. VW beispielsweise bringt Komponenten nach Russland, die in Euro bezahlt worden sind und montiert sie mit Zulieferteilen aus russischer Produktion im VW-Werk Kaluga und verkauft sie auf Rubelbasis an russische Autofahrer. Die haben jedoch immer weniger Geld in der Tasche. Sowohl im August als auch im November stoppte der deutsche Konzern in Kaluga für mehrere Tage die Bänder - wegen Absatzproblemen. Rund 13 Prozent weniger Autos als in den Vorjahren wurden bis einschließlich Oktober in Kaluga montiert. Solche Meldungen treffen auch Leif Pedersen, dessen Firma ICT Logistics mit Niederlassungen in Kaluga und Moskau aktiv ist. Das dänische Unternehmen mit Hauptsitz in Herning und einer deutschen Niederlassung in Norderstedt betreibt Bahn-, Lkw- und Short-Sea-Verkehre zwischen West- und Osteuropa. Russland ist dabei längst nicht sein einziger Markt, aber die Krise alarmiert Pedersen dennoch. "Russland ist für die GUS-Staaten das, was Deutschland für die EU ist - ein wirtschaftlicher Impulsgeber", sagt der Spediteur. Kontakte sind überlebenswichtig Sein eigenes Unternehmen habe im vergangenen Jahr 12 Prozent an Transportmenge Richtung Russland verloren, im Durchschnitt sieht er die Rückgänge eher bei 20 bis 25 Prozent. "Wir transportieren kaum Güter, die durch das Embargo betroffen sind. Außerdem sind wir schon lange in Russland aktiv und haben sehr gute Kontakte", begründet er das vergleichsweise gute Abschneiden von ICT. Momentan seien Erfahrungen und Kontakte überlebenswichtig für Spediteure im Russlandgeschäft. Neulinge hätten angesichts massiver Überkapazitäten und dementsprechend niedriger Transportpreise kaum eine Chance. "Wir erwarten auch für 2015 keine positive Entwicklung, aber langfristig bietet Russland sehr viele Möglichkeiten", sagt Pedersen. Dazu zählt Pedersen die Fußball-Weltmeisterschaft im Jahr 2018, die für einen Bauboom sorgen wird. Zudem könne auch der Ölpreis steigen oder die politischen Streitigkeiten gelöst werden - alles das könne dafür sorgen, dass sich der Wind wieder dreht. Bis dahin will Pedersen sein Russland-Business konsequent optimieren. "So eine Krise ist gut, um sich auf die eigene DNA zu besinnen", findet der Däne. Als wichtige Erfolgsvoraussetzung auf dem russischen Markt sieht Pedersen die Präsenz mit eigenen Niederlassungen. "Nur so können wir sicherstellen, dass wir die hohen Anforderungen der Behörden zu 100 Prozent erfüllen." Auch im Kontakt zu den Kunden bringen eigene Niederlassungen entscheidende Vorteile zu der flexibleren, aber weniger persönlichen Präsenz über Agenten. "Wer in Russland gute Geschäfte machen will, muss viel Zeit in den Aufbau persönlicher Kontakte investieren", bringt es der Spediteur auf den Punkt. Diskriminierende Maßnahmen Gegen den Trend ist Thomas Schleife unterwegs. Der Geschäftsführer von Transco Berlin-Brandenburg ist primär im Osteuropageschäft unterwegs. "2014 war das erfolgreichste Jahr meiner Tätigkeit", sagt Schleife. Die Spezialisierung auf Pharmatransporte, Terminsendungen und Dokumentationsabwicklung, alles mit höchsten Qualitätsanforderungen verbunden, brachte seinem Unternehmen 15 Prozent Zuwachs. Die Einbrüche in anderen Transportsegmenten sind ihm natürlich nicht verborgen geblieben. "Bei Standardtransporten, insbesondere mit Plane-Spriegel-Lkw, herrscht angesichts der hohen Überkapazitäten schon fast Kriegszustand", hat der Berliner Spediteur beobachtet. Westeuropäische Spediteure berichten, dass von russischer Seite einiges dafür getan wird, die russischen Frachtführer mit Aufträgen auszustatten. Zu den diskriminierenden Maßnahmen gegen ausländische Frachtführer zählt beispielsweise die Einführung einer Wertgrenze von 150.000 Euro für das Carnet-TIR-Verfahren. Diese Grenze gilt jedoch nicht für russische oder weißrussische "Zollfrachtführer". Frachtführer aus anderen Ländern müssen für den die Grenze übersteigenden Wert der Ladung eine zusätzliche Versicherung eindecken. Kürzere Wartezeiten an den Grenzen Keine größeren Probleme, da sind sich Schleife und Pedersen einig, macht die Kontrolle der Ladungen hinsichtlich von Sanktionen betroffener Waren. "Es wird sehr genau kontrolliert", sagt Pedersen. "Aber da schon vor den Sanktionen sehr intensiv kontrolliert wurde, fällt der zusätzliche Aufwand zeitlich nicht so ins Gewicht." Einen Ausgleich verschaffen die kürzeren Wartezeiten an den Grenzübergängen, die nicht so stark frequentiert werden wie vor der Krise. Ausnahmen bestätigen jedoch die Regel: Als der litauische Regierungschef sich im Ukraine-Konflikt allzu deutlich auf die Seite des Westens stellte, ging an der litauischen Grenze und für Fahrzeuge mit litauischem Kennzeichen für einige Zeit nicht mehr viel. Mit nicht sehr großen Hoffnungen blickt Marco Lütz, Geschäftsführer der Lübecker Bruhn Spedition, auf das Russland-Geschäft im Jahr 2015. "Da müssen wir wohl noch durch ein Tal der Tränen gehen", mutmaßt er. Lütz ist mit dieser Einschätzung in bester Gesellschaft. Die Weltbank sieht das russische Wachstum in diesem Jahr in der Nähe der Nulllinie. Immerhin beobachtet Lütz derzeit eine Stabilisierung auf niedrigem Niveau. Die Bruhn Spedition betreibt in Russland zwei Niederlassungen in St. Petersburg und Moskau. Während die Containerverkehre über die Ostsee um fast 40 Prozent einbrachen, waren die Mengenrückgänge im Landverkehr laut Lütz "nicht so dramatisch". Bruhn stabilisiert das Geschäft seiner beiden russischen Niederlassungen durch innerrussische Transporte. "Wir fahren Trockenbulk-Verkehre für die russische Großchemie", erläutert Lütz. Bruhn setzt dabei spezielle Bulk-Container an, die in Russland normalerweise nicht zur Verfügung stehen. Sie können durch Schwerkraft mittels pneumatischer Niederdruckförderung über eine Zellradschleuse direkt ins Silo der Empfänger entladen werden. Da Kosten und Erlöse in Rubel anfallen, leidet das innerrussische Geschäft nicht unter volatilen Wechselkursen. Firmen halten an russischem Markt fest Genau wie für Schleife und Pedersen ist für Lütz ein Ausstieg aus dem russischen Markt derzeit keine Option. "Russland bleibt ein wichtiger Markt für uns", sagt der Lübecker Spediteur. Diese Position wird offenbar von den Mitgliedern der deutsch-russischen Außenhandelskammer geteilt. Trotz erheblicher Herausforderungen habe sich noch keines der 60.000 Firmen aus dem Markt verabschiedet, meldet die AHK. Auch Schleife rechnet damit, dass sich Russland wieder erholt. "Der Markt ist nicht tot, sondern unter Druck. Wir müssen uns dem anpassen", sagt der Transco-Geschäftsführer. Nowak ist der Meinung, dass den deutschen Firmen nach der Krise ein Comeback gelingt. "Die deutsche Wirtschaft ist nach wie vor nah an ihren russischen Kunden. Deutsche Qualität und Wertarbeit wird noch immer von den Russen geschätzt", sagt er. Das gilt - da sind sich die Experten einig - auch in der Logistik. Die Serie Länder mit Potenzial Wenn es um Staaten geht, die als Wachstumsmärkte gelten, werden oft Länder wie China, Rumänien oder Bulgarien genannt. Unsere Serie lässt den Blick über den Rand der EU schweifen und stellt eher unbekannte Länder vor. Wir gehen auf deren Stärken, Schwächen und Besonderheiten ein und geben Hinweise, worauf zu achten ist, wenn man hier Fuß fassen will. Den Auftakt machten Marokko (VR 43/2014) und Kasachstan (VR 47/2014). Nach Russland folgt in der VR 8/2015 Tunesien. cd Russland Länderportrait* - Fläche: 17.075.400 km², davon in Europa: 3.952.550 km² (Deutschland: 357.168)- Einwohner: 143,6 Mio., (D.: 80,8 Mio.)- Wachstum BIP in Prozent: 2011: 4,3; 2012: 3,4; 2013: 1,3; 2014: unter 1 Prozent- Import (2013): 343 Mrd. USD- Export (2013): 523 Mrd. USD- BIP/Kopf in USD: 12.993 (44.999)- Inflation (in Prozent): 2011: 8,5; 2012: 5,1; 2013: 6,9- Arbeitslosigkeit 2013 in Prozent: 5,6- Transportnetz 2011: Straßen: 901.000 km, Schiene: 86.000 km, Kanal/Flussnetz: 101.000 km- Hauptstadt: Moskau- Religion: christlich-orthodox, muslimische Minderheit mit 7 bis 15 Prozent Bevölkerungsanteil- Staatsform: Republik *in Klammern: Zahl für Deutschland Quellen: Deutsch-russische Außenhandelskammer, Weltbank