Supply-Chains neu denken

Ob "Personalisierung", "Next-day Delivery" oder auch volle Bestelltransparenz - alles das empfinden Kunden heute als selbstverständlich. Gerade weil sich die klassische funktionsorientierte Logistik innerhalb der letzten Jahrzehnte zu einem globalen Supply-Chain-Management (SCM) entwickelt hat, das über die Unternehmensgrenzen hinaus die Gesamtheit der Unternehmensprozesse in Form von Netzen miteinbezieht. Und inzwischen sind diese über den kompletten Globus ausgedehnt. Neue Störfälle und Bremser Doch nicht erst seit der Corona-Pandemie wissen wir, dass politische, gesellschaftliche oder ökologische Entwicklungen das SCM beeinflussen und sowohl Chancen als auch Risiken mit sich bringen. So befindet sich das globale SCM in einem ständigen Wandel. Sowohl aktuelle Turbulenzen, wie die explodierenden Energiekosten infolge des Ukraine-Kriegs und die Lieferausfälle in Folge der Corona-Pandemie, als auch langfristige Trends wie die Notwendigkeit für nachhaltige Lösungen oder die steigenden Lohnkosten in Niedriglohnländern beeinflussen das SCM. Umso dringlicher stellt sich für viele Unternehmen daher aktuell die Frage: Wie geeignet ist angesichts der geänderten Rahmenbedingungen noch die Strategie der globalen Ausdehnung der Supply-Chain-Netze mit einem Fokus auf die Kostenreduzierung? Taugt diese Strategie auch in Zukunft noch - sagen wir mal im Jahr 2040? Ein Blick aus drei unterschiedlichen Blickwinkeln auf diese Rahmenbedingungen bringt wichtige Erkenntnisse: Ökologisch: Im Rahmen der Prävention des Klimawandels gilt es, in Zukunft vermehrt nachhaltige Lieferketten aufzubauen. Dabei spielen einerseits die direkt durch Transporte erzeugten Emissionen, aber auch die Emissionen der Lieferketten-Teilnehmer eine Rolle. Auch Verbraucher fordern zunehmend nachhaltige Produkte und Unternehmensprozesse, sodass diese bereits zu einem Kaufkriterium geworden sind. Politisch: Künftig werden auch gesetzliche Regelungen die Anforderungen an Nachhaltigkeit weiter steigern. Sei es durch die Erhebung von Steuern, wie der CO2-Steuer, oder durch Regelungen wie das Lieferkettengesetz. Globale Spannungen der letzten Monate führen außerdem zum Überdenken der stetigen Globalisierung und fordern ein umfassendes Risikomanagement. Ökonomisch: In China treiben soziale Entwicklungen und die Verlangsamung des Bevölkerungswachstums die dortigen Lohnkosten. Mit der Folge, dass in andere Niedriglohnländer ausgewichen oder die Rückverlagerung von Produktionsstätten unter Einsatz hoher Automatisierungsgrade berücksichtigt werden muss. Zudem sind die Transportnetze noch effizienter zu gestalten, um die steigenden Transportkosten (in Folge der Energiepreisexplosion und künftiger CO2-Steuern) auszugleichen. Um die entstehenden Herausforderungen zu überwinden, müssen Firmen die Art und Weise, wie sie beschaffen und produzieren, also neu denken. Sechs Strategien werden in den kommenden Jahren an Bedeutung gewinnen: Strategie 1: Glokalisierung umsetzen Unter dem Motto "global handeln, aber lokal beschaffen und produzieren" werden Unternehmen ihre Wertschöpfungsketten neu aufstellen. Um politischen und logistischen Risiken entgegenzuwirken, werden sie ihre Produktionsstandorte und Lieferketten innerhalb ihrer Umsatzmärkte (Einzelländer oder Handelsblöcke) einkapseln. Um Rohstoffrisiken zu reduzieren, werden Firmen vermehrt Bearbeitungsschritte in Herkunftsländer verlagern. Strategie 2: Automatisierung nutzen Höhere Arbeitskosten sowohl aufgrund der Entwicklung in bisherigen Niedriglohnländern als auch als Konsequenz der Umstellung der Supply-Chains im Rahmen der Glokalisierung werden für Firmen zur Last. Zusammen mit dem wachsenden Arbeitskräftemangel entsteht die Möglichkeit, Investitionen in Automatisierung vermehrt voranzutreiben. Diese Tendenz betrifft nicht nur Fertigungsbereiche - mit steigendem Fokus auf flexiblere Industrieroboter und generative Fertigungsverfahren -, sondern auch indirekte Bereiche, in denen die Anwendung von künstlicher Intelligenz (KI) die Ausführung von Routineaufgaben erleichtern kann. Die Rolle des Menschen im Betrieb wird einen progressiven Wandel erleben, mit kreativen und verwaltenden Aufgaben, die verstärkt durch Automatisierung und KI unterstützt werden. Strategie 3: Kritische Rohstoffe sichern Aktuelle Krisen haben bewiesen, wie problematisch die Versorgung mit kritischen Rohstoffen sein kann. Die Glokalisierung treibt dieses Problem insbesondere dann, wenn die resultierenden Herstellländer nicht über die nötigen Rohstoffe verfügen. Firmen müssen dann innovative Wege finden, die Rohstoffversorgung zu sichern. Eine mögliche Lösung ist die Kreislaufwirtschaft. Diese würde nicht nur die Wiederverwendung von Rohstoffen fast ohne Verluste erlauben, sondern auch zur Entstehung von Rohstoffquellen näher am Absatzmarkt führen. Die Nutzung neuartiger Materialien, wie etwa nachwachsende Rohstoffe anhand biotechnologischer Verfahren, können auch zur Rohstoffunabhängigkeit von Firmen führen. Strategie 4: Flexibilität generieren Die Erhöhung der Flexibilität bei Firmen soll zwei Ziele erfüllen. Einerseits ist sie ein Mittel, resilienter zu werden. Prozesse, die sich auf andere Produkte und Rohstoffe inklusive Betriebsmittel oder Auslastungsgrade umstellen lassen, können plötzliche Änderungen in den Arbeitsbedingungen besser verkraften. Andererseits sollen Firmen im Rahmen der Glokalisierung den Nutzungsumfang ihrer Standorte erhöhen, die diversifiziert und in teuren Produktionsumgebungen lokalisiert sind. Nur so lassen sich diese wirtschaftlich betreiben. Besonders herausfordernd wird es in der Prozessindustrie, mehr Flexibilität zu gewinnen. Erforderlich sind hier technologische, aber auch organisatorische Veränderungen - .. Stichwort "diskrete Fertigung" in Chargen. Strategie 5: Integration Um die Supply-Chain-Risiken zu reduzieren, werden Firmen vermehrt auch eine vertikale Integration in Erwägung ziehen. Unterschiedlichste Formen sind möglich, etwa der Einstieg bei Zulieferern, der Zukauf anderer Firmen oder die Erweiterung des eigenen Geschäfts. Um die Glokalisierungskosten besser tragen zu können, ist außerdem eine horizontale Integration durch Kooperation verschiedener Unternehmen möglich, etwa beim Betrieb von Produktionsstandorten oder bei der Entwicklung lokaler Lieferanten. Strategie 6: Software Eine der größten Herausforderungen für Firmen entsteht durch die Softwareisierung. Die zunehmende Digitalisierung der Produkte aller Arten bedeutet, dass zunehmend Daten erfasst, verarbeitet und geteilt werden. Dadurch wird die Software zu einem Hauptbestandteil und Differenzierungsfaktor, sogar bei klassischen Produkten (etwa Elektroautos). Die Hoheit über Daten und Informationen sowie die Ausfuhr kritischer Technologien werden somit zu einem strategischen Thema für Firmen und Staaten. Beschränkung oder aber Kontrollen bei der Einführung und Nutzung ausländischer Software sind denkbar. Um diese zu überwinden, werden Unternehmen verstärkt auf lokale Software-Entwickler und IT-Dienstleister setzen und strategische Partnerschaften mit Firmen eingehen. Zudem werden Plattform- und Modularisierungs-Ansätze an Bedeutung gewinnen. Resümee: Ein gemeinsamer Aspekt all dieser Entwicklungen ist die zukünftige Verkürzung von Lieferketten und -wegen. Und dies verspricht zusätzliche Vorteile: Mehr Personalisierung: Kürzere Lieferketten bedeuten kürzere Durchlaufzeiten und eine Produktion, die "zeitlich" näher an den Kunden ist. Dies erhöht die Möglichkeiten für Unternehmen, ihre Produkte besser an die Kunden- oder Marktanforderungen anzupassen. Sprich: die Personalisierung steigt durch kürzere Laufzeiten. Mehr Resilienz: Kurze Lieferketten ermöglichen Unternehmen, schneller zu reagieren. Zugleich würden sie eine Reduzierung der Rohstoffrisiken und eine verbesserte Zusammenarbeit mit den Lieferanten ermöglichen. Mehr Nachhaltigkeit: Kurze Lieferketten erlauben nicht nur die Reduzierung des Energieverbrauchs beim Gütertransport. Sie erlauben auch eine erweiterte Kontrolle über die Bedingungen, unter denen beschaffte Produkte und Rohstoffe verarbeitet werden. Der Wandel der Handelsbedingungen wird also eine Transformation der Unternehmen und ihrer Lieferketten in den nächsten Jahren vorantreiben. Dies bedeutet aber nicht, dass alle Kernkonzepte der aktuellen globalisierten Supply-Chain verschwinden. Trotz der Glokalisierung wird die Produktion bestimmter Produkte nicht auswandern. Das ist besonders der Fall bei Luxuswaren und etablierten Marken, bei denen das Herkunftsland eine große Rolle spielt. Es ist aber wichtig für Unternehmen, die damit assoziierten Qualitätserwartungen zu erfüllen, insbesondere angesichts steigender Kosten. Darüber hinaus werden reife Handelsbeziehungen zwischen bestimmten Ländern und Handelsblöcken den Bedarf an Risikominderungs-Maßnahmen senken. Aufgrund der Änderung in den Investitionsausgaben und Produktionskosten assoziiert mit "Reshoring" und "Nearshoring" (dt. "Nahverlagerung") werden Firmen die langfristige Entwicklung aller Märkte (von Beschaffung über Produktion bis hin zu Absatz) analysieren müssen, um ausgewogene Entscheidungen zu treffen. Aktuelle Krisen haben den Transformationsprozess von Unternehmen lediglich beschleunigt. Zu den bekannten ökologischen und politischen Faktoren kommt nun der zusätzliche Resilienzbedarf hinzu, um disruptiven Ereignissen bestmöglich entgegenzustehen. Dadurch muss die Wirtschaftlichkeit von Versorgungs- und Produktionsentscheidungen unter neuen Bedingungen bewertet werden. Dieser Wandel wird von Unternehmen nicht nur eine enorme Investitionsbereitschaft erfordern. Ein wirtschaftlicher Aufbau und Erhalt redundanter Lieferketten wird Kreativität, Innovationskraft und Kompromissbereitschaft benötigen. Eduardo Colangelo, Christian Fries und Celine Letzgus, wissenschaftliche Mitarbeitende am Fraunhofer Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA Autoren: Wissenschaftliche Mitarbeitende am Fraunhofer IPA Eduardo Colangelo ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung "Fabrikplanung und Produktionsmanagement" am Fraunhofer Institut für Produktionstechnik und Automatisierung IPA seit dem Jahr 2013. Zu seinen Schwerpunkten in Forschungs- und Industrieprojekten zählen sowohl Themen wie Supply-Chain-Management und Produktionsplanung und -steuerung als auch ihre Weiterentwicklung durch Digitalisierungsansätze, wie zum Beispiel Industrie 4.0 und künstliche Intelligenz. Vor 2013 war Colangelo als SAP-Berater tätig, mit einem Fokus auf den logistischen Modulen und Erfahrung bei unterschiedlichen Unternehmen und Industrien. Christian Fries ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung "Fabrikplanung und Produktionsmanagement" am Fraunhofer IPA. In Forschungs- und Industrieprojekten beschäftigt er sich mit Themen aus den Bereichen Produktionsmanagement, Supply-Chain-Management sowie Produktionsplanung und -steuerung. Celine Letzgus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich der Produktionsplanung und -steuerung am Fraunhofer IPA in Stuttgart. Zuvor schloss sie ihr Studium mit einem Master (MSc) in Operations Management ab. eh 86 Prozent der deutschen Unternehmen planen laut dem VDMA ihr Geschäft zu re- oder nearshoren.

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