Stumme Zeugen

Mindestens sechs Sekunden zeigt die Ampel schon Rot, als der Autofahrer sie überfährt. Der Vorfall blieb nicht ungestraft, denn er wird beobachtet: Nicht nur von einem anderen Verkehrsteilnehmer, sondern auch von dessen Dashcam. Die Kamera an der Windschutzscheibe filmt, was auf der Straße passiert. Zugetragen hat sich dieser Verstoß vor einigen Monaten. Das Amtsgericht Reutlingen verhängte aufgrund des Videobeweises eine Geldbuße von 200 Euro und ein einmonatiges Fahrverbot gegen den Fahrer. Dieser wehrte sich daraufhin: Die Videoaufzeichnung sei im Prozess nicht verwertbar, monierte er. Das Oberlandesgericht (OLG) Stuttgart bestätigte jetzt aber das Urteil aus Reutlingen. In Fällen schwerwiegender Verkehrsordnungswidrigkeiten sei es grundsätzlich zulässig, Dashcam-Aufnahmen anderer Verkehrsteilnehmer als Beweismittel heranzuziehen (Urteil vom 4. Mai 2016, Aktenzeichen: 4 Ss 543/15). Die Rechtsprechung ist sich noch uneins Auch für Unternehmen mit Lkw-Fuhrpark sind Dashcams interessant. Wenn ein Unfall geschieht, lassen sich damit Beweise sichern, die sowohl im Ordnungswidrigkeiten-Verfahren als auch bei Schadensersatzklagen entscheidend zur Aufklärung beitragen können. Der Beschluss des OLG Stuttgart ist die erste obergerichtliche Entscheidung zum Thema Dashcams in Deutschland. Ein Freibrief für die Verwendung der kleinen Kameras ist sie aber nicht. Seit 2013 beschäftigen Dashcams die Gerichte, mit steigender Tendenz und völlig unterschiedlichem Ergebnis. "Die Frage, wie ein Prozess oder Verfahren ausgehen könnte, in dem die Verwertbarkeit einer Dashcam-Aufnahme eine Rolle spielt, ist ziemlich komplex und derzeit nicht leicht zu beantworten", sagt Romanus Schlemm, Fachanwalt für Verkehrsrecht in Bad Nauheim und Vizepräsident des Verbands deutscher Verkehrsrechts-Anwälte. Denn einige Richter halten es für unzulässig, die gemachten Aufnahmen als Beweismittel zuzulassen. So verweigerte etwa das Landgericht Heilbronn den Rückgriff auf die Filmaufnahmen (Urteil vom 17. Februar 2015, Aktenzeichen: I 3 S 19/14). Das Landgericht Memmingen verurteilte gar unter Androhung eines Ordnungsgeldes von bis zu 250.000 Euro eine Erzieherin und deren Mann. Sie sollten es künftig unterlassen, aus dem parkenden Auto heraus Videoaufzeichnungen vom gegenüber eines Kindergartens gelegenen Grundstück und dessen Bewohnern zu machen (14. Januar 2016, Aktenzeichen: 22 O 1983/13). Andere Gerichte sehen das nicht so. Jüngst entschied das Landgericht Landshut, dass die Aufnahmen zum Beweis von Haftungsansprüchen grundsätzlich verwertbar seien (25. Mai 2016, Aktenzeichen: 12 S 2503/15). Ein Jahr zuvor hatte sich dasselbe Gericht gegen die Auffassung der Heilbronner Kollegen gestellt (1. Dezember 2015, Aktenzeichen: 12 S 2603/15). Auch das Landgericht Frankenthal entschied pro Dashcam (30. Dezember 2015, Aktenzeichen:4 O 358/15). Datenschutzexperten haben Bedenken Die unterschiedliche Sichtweise der Gerichte liegt daran, dass Dashcam-Aufnahmen in Deutschland rechtlich nicht eindeutig geregelt sind. Manche Gerichte sehen im Filmen des Verkehrs einen Verstoß gegen das Kunsturhebergesetz und das allgemeine Persönlichkeitsrecht der aufgenommenen Personen. Andere bewerten die Rechtslage anders. Uneins sind sich die Juristen aber vor allem darüber, ob ein Verstoß gegen das Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) vorliegt. Danach ist eine Beobachtung öffentlich zugänglicher Räume mittels Videos nur unter ganz engen Voraussetzungen zulässig. Einige Richter lehnen daher Dashcam-Aufnahmen ab. Sie werden unterstützt von den Datenschutzaufsichtsbehörden der Länder. Der Landesbeauftragte für den Datenschutz in Baden-Württemberg, Jörg Klingbeil, sagt: "Das unbemerkte Filmen von Autofahrern und Fußgängern auf öffentlichen Straßen ist ein erheblicher Eingriff in das informationelle Selbstbestimmungsrecht und grundsätzlich nicht mit dem deutschen Datenschutzrecht zu vereinbaren." Andere Juristen sind der Auffassung, das Bundesdatenschutzgesetz sei gar nicht anwendbar, da es fest installierte Kameras vor Augen habe, die den Verkehr auf einer bestimmten Straße oder auf einem bestimmten Platz überwachen. Selbst wenn ein Verstoß vorläge, führe das nicht automatisch zu einem Beweisverwertungsverbot. Immer öfter gibt es Urteile pro Dashcam "Die Tendenz in der Rechtsprechung scheint momentan aber vorsichtig in Richtung Verwertbarkeit der Aufnahmen zu gehen", sagt Schlemm. Auch die technische Entwicklung spiele dabei eine Rolle. "Die meisten Kameras filmten bislang nicht anlassbezogen, sondern dauerhaft", so der Jurist. Damit haben Richter eher ein Problem. "Erst die neueren Modelle können das Gefilmte fortwährend überschreiben. Bei Modellen mit einem Drei-Achsen-Beschleunigungssensor wird die Aufnahme im Fall einer starken Bremsung, Beschleunigung oder Kollision schreibgeschützt. Abschließende Klärung bezüglich der Verwertbarkeit als Beweismittel könnte aber erst ein Urteil des Bundesgerichtshofs bringen." Anwalt Schlemm rät Fuhrunternehmern, die eine entsprechende Kamera zur Beweissicherung verwenden möchten, bis dahin Folgendes: Die Dashcam sollte während der Fahrt verwendet werden und nicht im geparkten Fahrzeug. Sie sollte möglichst kurze Intervalle und am besten lediglich anlassbezogen aufzeichnen, also unmittelbar vor oder während einer Gefahrensituation. Wer gegen diese Verhaltensregeln verstößt, kann sich zwar ein Bußgeld wegen Verstoßes gegen das BDSG einhandeln. Dieses Risiko hält der Anwalt aber für relativ gering. Swen Walentowski von der Deutschen Anwaltauskunft warnt: "Nutzer sollten aber beachten, dass die Aufnahmen auch gegen den Fahrer selbst benutzt werden können." Die Polizei kann im Falle eines Unfalles die Dashcam sicherstellen. Mehr zum Thema unter Trends & Innovationen www.verkehrsrundschau.de/dossiers Unfallabwicklung Versicherungswirtschaft befürwortet Dashcam-Einsatz Kfz-Versicherer könnten mithilfe von Dashcams nach einem Unfall relativ einfach die Schuldfrage klären. Damit würde sich auch die Schadensregulierung beschleunigen. "Dashcams liefern objektive und leicht auszuwertende Informationen und könnten diverse unfallanalytische Gutachten überflüssig machen", sagt Uwe Cremerius, Leiter der Kommission Kraftfahrt Schaden im Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV). Damit die Versicherer Dashcam-Aufnahmen verwenden können, müsse aber zunächst ein verbindlicher datenschutzrechtlicher Rahmen für ihren Einsatz geschaffen werden. Cremerius hält es für unrealistisch, die Kamera erst bei einer konkreten Gefahr zu verwenden. "In einer Gefahrensituation versuchen die Fahrer den Unfall zu verhindern und werden kaum daran denken, die Dashcam einzuschalten." Er schlägt daher vor, solche Kameras zuzulassen, die eine Fahrt lediglich für einen kurzen Zeitraum aufzeichnen und ältere Aufnahmen kontinuierlich löschen. ir Situation in Europa Dashcams sind derzeit auch in anderen Ländern umstritten Auch im europäischen Ausland fehlen bislang konkrete gesetzliche Regelungen zur Verwendung von Dashcams. Aufgrund der rasanten technischen Entwicklungen hin zu immer kleineren und besseren Kameras stellt sich auch bei Auslandsfahrten immer häufiger die Frage, ob eine Minikamera zur Videoaufzeichnung während der Fahrt zulässig ist.Wie der Allgemeine Deutsche Automobil-Club (ADAC) informiert, ist die Verwendung nach Auskunft der jeweiligen Automobilclubs in diesen Ländern unproblematisch: Bosnien-Herzegowina, Dänemark, Großbritannien, Italien, Malta, Niederlande, Norwegen (lediglich für den privaten Gebrauch, Fahrer darf hiervon nicht abgelenkt sein), Frankreich (solange keine Sichtbehinderung gegeben ist), Serbien, Spanien.In folgenden Ländern wird laut ADAC von der Verwendung einer Dashcam abgeraten: Belgien, Luxemburg, Portugal, Schweiz. In Österreich und Schweden sei das Anbringen einer Minikamera im Auto ohne Genehmigung verboten. In Russland und den USA ist die Rechtslage dagegen lockerer. Dort sind Dashcams hinter Windschutzscheiben von Fahrzeugen bereits weitverbreitet und erlaubt. ir/ag

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