Daten als Wettbewerbsvorteil in der Logistik nutzen

Resilienz war das große Schlagwort der Coronazeit. Unternehmen, Politik und Wissenschaft diskutierten Szenarien, die man hätte antizipieren können, über Vorsorge, die man hätte treffen sollen. Doch die Realität sah anders aus. 2021 blockierte die Ever Given den Suez-Kanal und alle erklärten: "Darauf konnte man nicht vorbereitet sein, das war zu unwahrscheinlich." Dann kamen der Ukraine-Krieg, geopolitische Schocks und Sanktionen. Der US-China-Handelskonflikt, Strafzölle und Exportkontrollen verschärften die Lage. Parallel dazu wechselte in den USA die politische Führung und damit ihre wirtschaftspolitischen Leitlinien. Resilienz erfordert Daten Unternehmen reagierten meist nach dem gleichen Muster: für jede Krise eine Ausrede. Die Vision von Resilienz, also der Fähigkeit, sich schnell von unbekannten Schocks zu erholen, wurde nie eingelöst. Im Gegenteil: Heute ist Resilienz fast schon eine Utopie, obwohl Krisen nicht enden, sich überlagern und potenzieren. Klassisches Risikomanagement stößt dabei an Grenzen. Echte Resilienz erfordert einen konsequenten Umgang mit Daten als Produktionsfaktor. Die Datenökonomie - das gezielte Erheben, Teilen, Verknüpfen und das ökonomische Nutzen von Informationen - wird in der Welt der multiplen Krisen zur zentralen Grundlage für die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland und Europa. Mit Transparenz vorhersagefähig Schon zu Beginn des Industrie-4.0-Hypes war klar: Die vollen Potenziale von Automatisierung und Digitalisierung lassen sich nur durch echte, unternehmensübergreifende Transparenz ausschöpfen. Transparenz bedeutet dabei mehr als die bloße Verfügbarkeit von Daten. Es reicht nicht zu sehen, was in der Wertschöpfungskette passiert. Entscheidend ist zu verstehen, warum etwas passiert. Daten aus verschiedenen Quellen müssen dazu effizient verknüpft werden. Simulationen und digitale Zwillinge können aus Transparenz Vorhersagefähigkeit machen. Ein Hersteller kann so automatisiert und in Echtzeit Verzögerungen in der Zulieferkette erkennen und frühzeitig Gegenmaßnahmen einleiten, etwa die Produktionsplanung anpassen, Lagerbestände verschieben oder beim Zulieferer eine Zusatzcharge auslösen. Doch von einer solchen automatisierten Steuerung und Reaktion auf Störungen ohne Verzögerungen sind die meisten Unternehmen weit entfernt. Schlimmer noch: Viele Unternehmen haben heute weder eine vollständige Transparenz über ihre Lieferketten noch über die Zusammensetzung ihrer Produkte. Angesichts dynamischer ESG-Regulierungen und permanenter Schocks wäre das dringend nötig. Und: Ab 2026 wird EU-weit der "Digital Product Passport" (DPP) für Batterien Pflicht. Er soll Transparenz über Materialzusammensetzung, Herkunft und Nachhaltigkeitsindikatoren sicherstellen. Ein Schritt, der die Notwendigkeit der Datenökonomie regulatorisch erzwingt (siehe Europäische Kommission, Proposal for a Regulation on Ecodesign for Sustainable Products, 2023). Angst vor Kontrollverlust Während viel über Daten gesprochen wird, dominiert in der Praxis die Angst. Kontrolle über die eigenen Wertschöpfungsprozesse an eine übergeordnete, womöglich anonyme und "künstliche" Instanz abgeben? Für viele klingt das nach Kontrollverlust, nicht nach Chance. Doch genau darin liegt der Widerspruch. Solange Digitalisierung und künstliche Intelligenz (KI) hinter verschlossenen Türen einzelner Unternehmen bleiben, limitiert sich ihr Nutzen. Daten, die nur intern genutzt werden, entfalten keine Wirkung entlang der Lieferkette. Gleichzeitig wurden noch nie so viele Daten erhoben wie heute. Laut einer Bitkom-Studie aus dem Jahr 2024 haben 69 Prozent der deutschen Industrieunternehmen bereits erste KI-Anwendungen im Einsatz. Doch dies sind meist Insellösungen, also Pilotprojekte ohne Durchgriff auf die Lieferkette. Die großen Optimierungspotenziale liegen hingegen ungenutzt brach. Heute zahlen viele Unternehmen den Preis für ihre versäumten Hausaufgaben: IT-Systeme sind nicht harmonisiert, es gibt keine einheitliche Datenbasis, Prozesse sind lediglich teilweise digitalisiert. Viele Betriebe stecken noch im Übergang von Industrie 3.0 zu 4.0. Noch immer werden Logistikhallen und Fabriken mittels Papier und Excel gesteuert, während längst der Sprung in die Datenökonomie anstehen müsste. Daten gäbe es genug: Maschinensensoren liefern Betriebszustände, Logistiksysteme erfassen Lagerbestände, Produktionssysteme dokumentieren Auftragsfortschritte, Produktpässe könnten Emissionen und Lebenszyklen transparent machen. Doch alles das liegt in inkompatiblen Formaten vor, verteilt über Systeme, ohne Echtzeit-Verfügbarkeit. Mehrwert durch Vernetzung Trotz vieler gesammelter Daten herrscht Skepsis, wenn es darum geht, Kontrolle an externe oder "künstliche" Instanzen abzugeben. Wie bei digitalen Plattformen entstehen ökonomische Werte in der digitalisierten Lieferkette nur, wenn eine kritische Masse von Akteuren Informationen entlang der Supply Chains teilt. Isolierte Daten, also Insellösungen, sind wertlos. Der ökonomische Mehrwert von KI und Digitalisierung entsteht erst durch die Verknüpfung über mehrere Akteure hinweg, wenn genügend Partner Daten teilen. Dafür braucht es gemeinsame Regeln. Sogenannte industrielle Datenräume (engl.: Industrial Data Spaces) schaffen dafür Standards und einen Datenrahmen. Initiativen wie Catena-X zeigen, wie die Datenökonomie im Automobilsektor praktisch funktionieren kann. OEMs, Zulieferer und Dienstleister definieren hier gemeinsam, wie zukünftig Daten standardisiert und sicher ausgetauscht werden können, etwa zu CO2-Emissionen, Materialherkunft oder Produktionskapazitäten. Erste Pilotprojekte belegen: Lieferanten können so schneller auf Engpässe reagieren und gleichzeitig Nachweispflichten im ESG-Bereich erfüllen. Gesetze treiben Datenökonomie Was Unternehmen bisher freiwillig nicht umgesetzt haben, wird nun schrittweise regulatorisch erzwungen. Die beiden EU-Richtlinien "Corporate Sustainability Reporting Directive" (CSRD) und "Corporate Sustainability Due Diligence Directive" (CSDDD) verpflichten Unternehmen zu umfassender Dokumentation und Risikomanagement. Das ist nur zu schaffen, wenn Daten automatisiert zwischen Akteuren fließen. Industrielle Datenräume können dafür den technischen und organisatorischen Rahmen schaffen. Hier sind branchenspezifische Regeln definiert, wie Daten sicher und standardisiert von Akteur zu Akteur weitergegeben werden können - ohne sie zentral zu speichern. Ein Lieferant kann so, zum Beispiel für einen definierten Zeitraum, CO2-Emissionsdaten für ein Produkt bereitstellen, die der Hersteller mit Transportdaten kombiniert, um regulatorische Anforderungen zu erfüllen. Ganz automatisiert. Alternativ entstehen Geschäftsmodelle, in denen Dienstleister Emissionsdaten entlang kompletter Lieferketten aggregieren und als Service verkaufen. Fünf Schritte: So können Unternehmen die Potenziale ihrer Daten besser nutzen Schritt 1: Digitalisierungsvision und -strategie - Unternehmensführung in der Pflicht Das klare Bekenntnis der Unternehmensführung und des mittleren Managements ist der Startpunkt. Nur auf dieser Grundlage können zukünftige Use Cases koordiniert und externe Anforderungen von Kunden, Regulierern oder Kapitalgebern erfüllt werden. Schritt 2: Finanzielle und personelle Ressourcen bereitstellen - über das IT-Tagesgeschäft hinaus Die Transformation hin zu durchgängig digital unterstützten Prozessen ist kein normales IT-Thema. Um eine Digitalisierungsstrategie in eine operativ umsetzbare Roadmap zu überführen, braucht es zusätzliche Ressourcen. Vor allem Investitionen in oft zerklüftete IT-Infrastrukturen dürfen nicht länger aufgeschoben werden. Schritt 3: Quick-Wins realisieren und mittelfristige Potenziale erschließen Kleinere Use Cases lassen sich schnell umsetzen. Sie erzeugen Akzeptanz und Motivation bei den Mitarbeitenden. Nicht alles muss intern gelöst werden - die lebhafte Start-up- und Beratungsszene kann besonders in der Anfangsphase Hilfestellung zu vertretbaren Kosten leisten. Schritt 4: Proaktiv Teil von Netzen werden und Standards mitgestalten Es sind aktuell zahlreiche Initiativen und geförderte Projekte aktiv, zum Beispiel zu industriellen Datenräumen und zur ESG-Regulierung. Unternehmen sollten sich hier frühzeitig beteiligen, um Standards mitzuprägen und nicht nur deren Anwender zu werden. Schritt 5: Kontinuierliche Optimierung und lebenslanges Lernen als Normalfall Rund 50 Prozent aller Digitalisierungsprojekte scheitern an Widerständen, Workarounds (Notlösungen - die Red.), Fehlern oder Unwissenheit (Arlinghaus, Risikomanagement für die smarte Fabrik, 2021). Daher braucht es kontinuierliche Aus- und Weiterbildung, Training und Change Management in Technologie, neuen Arbeits- und Führungsweisen sowie den genutzten Tools - nicht als Einmalaufwand, sondern als Daueraufgabe. Regulierung als Chance begreifen Viele Unternehmen klagen über die Last neuer Berichtspflichten. Doch richtig genutzt, können diese Daten tatsächlich interne Werte schaffen. Banken honorieren zum Beispiel dokumentierte Nachhaltigkeit mit günstigeren Finanzierungskonditionen. Versicherungen bewerten Transparenz als Risikoreduktion, große Auftraggeber übertragen Anforderungen an ihre Dienstleister. Für Logistikunternehmen, IT-Provider und Datenplattformen entstehen neue Chancen zur Differenzierung im Wettbewerb. Wer ESG- und KI-Daten integriert, Frühwarnsysteme aufbaut und Effizienzpotenziale hebt, kann so Regulierung in Wettbewerbsvorteile verwandeln. Kosten der Nicht-Digitalisierung Die Digitalisierung der Unternehmensprozesse ist kein Selbstzweck, sondern die Grundlage für die Konkurrenzfähigkeit von Unternehmen. Natürlich ist gerade im Mittelstand der starke Fokus auf konkrete Anwendungsfälle nachvollziehbar. Doch dieser hat schon in der frühen Phase der Industrie-4.0-Dynamik dazu geführt, dass Unternehmen hier nichts getan haben. Wer dagegen damals die Grundlagen geschaffen hat - durchgängige Datenarchitekturen, Standards, Schnittstellen -, hat heute eine Ausgangsbasis, um von Technologien wie digitalen Zwillingen oder Industrial Data Spaces zu profitieren. Wer diese Transformation nicht frühzeitig angestoßen hat, muss sie jetzt im Schnelldurchlauf nachholen. Andernfalls droht das "leise Sterben": nicht durch große Skandale, sondern durch schrittweise Marktverluste. Zulieferer und Logistikdienstleister werden aus Ausschreibungen ausgeschlossen, weil sie Transparenzanforderungen nicht erfüllen. Sie verlieren Zugang zu Kapital, weil Banken fehlende Daten als Risiko werten. Sie verlieren Versicherungsschutz, weil sie regulatorische Pflichten nicht nachweisen können. Nicht eine der großen Krisen drängt sie aus dem Markt, sondern die schleichende Unfähigkeit, Datenökonomie zu betreiben. Jetzt gilt es zu handeln Gerade Logistikunternehmen können diesen Wandel nutzen. Denn als Dienstleister verfügen sie über Informationen, die Verlader brauchen, um regulatorische Vorgaben zu erfüllen: Aus Daten entstehen Services, aus Services neue Märkte. Wer jetzt handelt, verwandelt regulatorische Anforderungen in Wettbewerbsvorteile. Professorin Julia Arlinghaus leitet seit 2025 das Institut für Produktion und SCM an der Universität St. Gallen. Der Fokus ihrer Forschung liegt auf der Gestaltung und dem Management globaler Wertschöpfungssysteme sowie auf digitalen Transformationsprozessen für die Industrie. Arlinghaus studierte Wirtschaftsingenieurwesen an der Universität Bremen. Danach war sie unter anderem Professorin für Produktionssysteme und -automatisierung an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg und Leiterin des Fraunhofer-Instituts für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF in Magdeburg.