Kabotage als Chance

Herr Hedberg, ist die vollständige Liberalisierung der Kabotage tatsächlich das Ziel der EU-Kommission? So, wie es Ihr Bericht nahelegt? Der Bericht ist kein Gesetzesvorschlag. Er analysiert die Lage auf dem Straßengüterverkehrsmarkt und deckt Schwachstellen auf. Am bedeutendsten ist, dass viele LKW leer auf den Straßen herumfahren und dass die Produktivität der Arbeitsleistung gering ist. Diese Ineffizienz ist besonders in den Ländern hoch, wo der Zugang zu den nationalen Märkten beschränkt ist. Das legt nahe, dass die Einschränkungen für Unternehmen, die potenziell Kabotagefahrten in diesen Ländern durchführen könnten, teilweise zu diesen Ineffizienzen beitragen. Wenn wir also die Kabotage-Regeln lockern, könnte das nicht nur dem Straßengütertransport helfen, sondern der Wirtschaft allgemein. Eine Marktöffnung wäre außerdem im Sinne des europäischen Binnenmarktes. Wie kann man sich eine solche Marktöffnung konkret vorstellen? Es ist klar, dass man nicht nur allein die Kabotagevorschriften lockern darf. Die Arbeitsbedingungen der Fahrer müssen genauso verbessert werden wie die Anwendung bestehender Gesetze durch die Mitgliedstaaten. Die Öffnung der nationalen Straßengüterverkehrsmärkte wird voraussichtlich schrittweise erfolgen, zeitgleich mit sozialen Maßnahmen und stärkeren Kontrollen. Der umstrittene Bericht der Kommission spielt die negativen Effekte einer weiteren Kabotage-Liberalisierung gerade in Bezug auf die Arbeitsverhältnisse eher herunter. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Öffnung des Straßengüterverkehrsmarktes negative Auswirkungen wie Verlust von Arbeitsplätzen oder Absenkung von Sozialstandards haben wird. Im Gegenteil: Der Gütertransport in der EU wird zunehmen. Die Straße wird weiter die Hauptlast der Güter transportieren. Folglich wird das zu einer Zunahme der Jobs in dieser Branche führen. Unter den aktuellen Umständen - Fahrermangel und niedrige Effizienz - wird die erwartete Zunahme der zu transportierenden Güter eine echte Herausforderung sein. Das ist vor allem deshalb beunruhigend, weil der Straßengütertransport fast zwei Prozent des EU-Bruttoinlandsproduktes ausmacht und rund drei Millionen Leute beschäftigt. Gut. Aber meine Frage haben Sie noch nicht beantwortet. Wir können es uns einfach nicht leisten, weiter an Regeln festzuhalten, die die Effizienz der Branche torpedieren - wie es die aktuellen Kabotage-Regeln tun. Wie schon gesagt: Daneben gibt es andere Bereiche, die parallel angegangen werden müssen. Die Sozialvorschriften, die bessere Durchsetzung der Regeln. Aber es gibt keinen Grund, warum diese Dinge nicht zeitgleich angegangen werden können. Wie kann man gute Arbeitsbedingungen und gleiche Sozialstandards in einem komplett liberalisierten Markt gewährleisten? Zurzeit steht eine völlige Liberalisierung der Kabotage ja noch gar nicht an. Aber wir stellen fest, dass die derzeit geltenden Regeln mit ihren Einschränkungen nicht dazu geführt haben, überall Arbeits- und Sozialbedingungen auf dem Standard zu erreichen, der erreicht werden sollte. Das ist problematisch. Denn die Garantie für gute Arbeits- und Sozialbedingungen für Fahrer ist eine der Prioritäten im EU-Weißbuch für Verkehr. Mit welchen Maßnahmen verfolgen sie diese Priorität zurzeit? Ein Instrument wäre die Annahme eines Sozial-Kodexes für mobile Arbeitnehmer. Auf einen solchen Kodex könnten sich die Vertreter der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber im Rahmen des Europäischen Sozialdialogs für den Straßengütertransport einigen. Abgesehen davon gibt es bereits einen gut ausgebauten Gesetzesrahmen für die sozialen Belange im Straßengüterverkehr. Der aber in der Praxis eher wie ein zahnloser Tiger erscheint. Die Gesetzgebung wird in den Ländern ganz uneinheitlich durchgesetzt. Verantwortlich für die Anwendung der Gesetze sind die Mitgliedstaaten. Die EU-Kommission arbeitet eng mit ihnen zusammen, um die Regeln für den Straßengüterverkehr effektiv umzusetzen. Wir erleben aber auch, wie einige Mitgliedsländer in jüngster Zeit bei Diskussionen um neue Gesetze versuchen, ihre Verantwortung bei der Durchsetzung der Regeln abzugeben. Aber in einem politischen System, das wie die EU auf Basis von Gesetzen funktioniert, ist es die Pflicht eines jeden Einzelnen, sich an die Gesetze zu halten. Auch in der Straßenverkehrsbranche. Wir müssen sicherstellen, dass alle Akteure der Branche zusammenarbeiten, damit die Regeln greifen und korrekt angewendet werden. Nur wenn wir es schaffen, dass wir diese Kultur der Regelbefolgung durchsetzen, werden wir erreichen, dass die Branche besser funktioniert. Sehen Sie überhaupt Chancen, dass ein Vorschlag der EU-Kommission zur weiteren Öffnung des Kabotage-Marktes vom Europaparlament und den EU-Mitgliedstaaten angenommen würde? Ich bin mir sicher, dass sowohl das Parlament als auch die Mitgliedstaaten sich wünschen, dass die EU in Zukunft weiter ein attraktiver Industrie- und Handelsraum bleibt. Um das zu garantieren, brauchen wir eine effiziente Logistik- und Straßengütertransport-Branche. Die Mitgliedstaaten haben bereits ihre große Unterstützung für einen Gesetzesvorschlag bekundet, mit dem der Marktzugang und der Zugang zu den Berufen im Straßengüterverkehr vereinfacht und erleichtert werden sollen. Die Kommission ist zurzeit dabei, sich Gedanken über einen solchen Vorschlag zu machen. Nächstes Jahr könnte er im Rahmen der Vereinfachung von EU-Vorschriften vorgelegt werden. Vita Kristian Hedberg Kristian Hedberg ist seit Januar 2012 Leiter des Referats Landverkehr bei der Generaldirektion Mobilität und Verkehr (DG Move) der EU-Kommission. Der 45-jährige Finne studierte Wirtschaft in Turku und Europäische Integration an der Universität Amsterdam.Vor seiner aktuellen Tätigkeit bei DG Move arbeitete er unter anderem in führenden Positionen in den Bereichen Verbraucher-, Erweiterungs-, Wirtschafts- und Informationsgesellschaftspolitik der EU-Kommission. kw Hintergrund Bericht der EU-Kommission Die EU-Kommission hat am 14. April den "Bericht über den Stand des Kraftverkehrsmarkts in der Union" veröffentlicht. Leerfahrten machen bis zu 25 Prozent der LKW-Fahrten in Europa aus, heißt es in dem Papier. Zudem sei die Arbeitsproduktivität in der Branche niedriger als in anderen Wirtschaftssektoren. Als Konsequenz legt die Kommission nahe, die Kabotage-Beschränkungen zu lockern. Zurzeit dürfen nach einer Lieferung ins EU-Ausland dort innerhalb einer Woche bis zu drei Kabotage-Fahrten ausgeführt werden. Negative soziale Folgen wie Arbeitsplatzverlust oder Sozialdumping spielt der Bericht mit Hinweis auf sich angleichende Löhne innerhalb der EU herunter. kw