inside: Herr Professor Klaus, im Rahmen ihrer jetzt gerade veröffentlichten Untersuchung „Top 100 der Logistik“ haben Sie den Anteil der Logistikkosten am Gesamtumsatz aller deutschen Unternehmen mit durchschnittlich 2,5 Prozent deutlich niedriger beziffert, als Untersuchungen anderer Institute dies bisher getan haben. Wie erklären Sie sich diese starken Abweichungen? Klaus: Die bisher zu diesem Thema durchgeführten wissenschaftlichen Untersuchungen haben sich nie die Mühe gemacht, die ermittelten Zahlen auf die Gesamtwirtschaft hochzurechnen. Sonst wäre den Experten schon früher bewusst geworden, dass dort die oft veröffentlichten zweistelligen Logistikkosten-Prozentzahlen nicht verallgemeinerbar sind. LOGISTIK inside: Zum Beispiel? Klaus: In der Studie „Logistiktrends“ der TU Berlin beispielsweise wird dem Handel ein Logistikkostenanteil von 27,6 Prozent an den Gesamtkosten zugerechnet. Bei Hochrechnungen dieses und weiterer dort genannter Branchenwerte auf die Gesamtumsätze von Industrie und Handel wäre dies gleichbedeutend mit der Aussage, dass in der deutschen Wirtschaft ein Logistikaufwandsvolumen von weit über 400 Milliarden Euro existiere. Und dies kann schlichtweg nicht sein. Wir haben ein Logistik-Aufwandsvolumen von 150 Milliarden Euro für die deutsche Wirtschaft berechnet und gehen von einer Genauigkeit unseres Wertes von plusminus fünf Prozent aus. LOGISTIK inside: Aber liegt dies nicht an unterschiedlichen Definitionen? Zum Beispiel beziehen Sie Ihre Kosten auf den Gesamtumsatz, andere Studien auf die Gesamtkosten eines Unternehmens? Klaus: Ja, aber dadurch lässt sich nur ein sehr kleiner Teil der Abweichungen erklären. Die Gewinnmargen sind in sehr vielen Branchen so gering, dass sich Gesamtkosten und Gesamtumsatz fast gleich setzen lassen. LOGISTIK inside: Wodurch ergeben sich denn dann die extremen Abweichungen? Klaus: Ein kritischer Punkt ist die Zuordnung von Aktivitäten in den Grenzbereichen, z.B. zwischen Fertigung, Distribution und Verkauf. Wir versuchen zum Beispiel der üblichen Handhabung der Kostenrechnungspraxis zu folgen und rechnen die Aktivitäten der Warenbereitstellung, die sich in den Outlets des Handels durch das Verkaufspersonal vollzieht, nicht zu den Logistikkosten. Ebenso haben wir die Aktivitäten des Produktionspersonals innerhalb der Produktionsprozesse ausgeklammert: Einen Arbeiter, der Teile aus einem Kanban-Behälter in eine Maschine einfüllt und wieder entnimmt, kann man zwar zur Logistik zählen. In der Praxis wird er aber fast immer der Fertigung zugeordnet. Deshalb haben wir auch fertigungsinterne Aktivitäten explizit ausgeklammert. Solche und andere Definitionen müssen einfach im Vorfeld einer Untersuchung klar definiert und an die Leser von Studien kommuniziert werden. Aber es gibt noch weitere Probleme. . LOGISTIK inside: Welche meinen Sie? Klaus: Wenn man Untersuchungsergebnisse auf die Befragung von Logistik-Verantwortlichen stützt, die ein – sehr verständliches – Interesse haben, ihren Aufgabenbereich als besonders wichtig und groß herauszustellen, dann werden diese den weitest möglichen Logistikbegriff und den obersten Rand möglicher Schätzbandbreiten auswählen. Dieser Effekt führt zu einer weiteren beträchtlichen Aufblähung der Logistikkostenanteile. LOGISTIK inside: Erklärt sich der Unterschied zu anderen Studien nicht auch dadurch, dass Sie mit so genannten Downstream-Werten rechnen? Klaus: Das ist richtig. Wir wollen bei unserer wirtschaftsweiten Bemessung der Logistik-Umsatzwerte Doppelerfassungen vermeiden. Deshalb dürfen wir alle Logistikkosten in der Supply Chain nur einmal bewerten. Beispiel Automobilbranche: Dort ist es branchenüblich, dass der Hersteller sowohl die „upstream“ Beschaffungslogistikkosten wie auch die „downstream“ Distributionslogistikkosten trägt. In vielen anderen Branchen trägt aber die Vorlieferant die Versorgungskosten seiner Kunden – die bei ihm als Distributionskosten erscheinen. Manchmal werden beide Arten von Kostenzurechnung in den Unternehmen nebeneinander angewandt. Damit wir solche Uneinheitlichkeiten in unserer Erfassungmethodik vermeiden, erfassen oder schätzen wir die Logistikkosten in allen betrachteten Branchen und Wertschöpfungsstufen einheitlich von der Produktion „downstream. Am Beispiel der Automobilhersteller bedeutet dies, dass wir einen etwas geringeren mittleren Logistikkosten-Prozentsatz von 4,0 Prozent vom Umsatz für unsere Berechnungen benutzen, als dort tatsächlich anfallen, dafür einen etwas höheren bei den Zulieferern dieser Industrie. Bei den Lebensmittel-Markenartikelherstellern ergibt sich der umgekehrt Effekt. Wir unterstellen ca. 5,0 Prozent. In den Buchhaltungen dieser Unternehmen sinken aber die dort erfassten Logistikkosten, weil mehr und mehr Händler nicht mehr durch den Hersteller anliefern lassen, sondern durch ihre Beschaffungssysteme zu „Selbstabholern“ werden. LOGISTIK inside: Welchen Aufschlag würden Sie auf die von Ihnen berechneten Downstream-Logistikkostenanteile denn geben, wenn Sie sowohl die Beschaffung als auch die Distribution eines Unternehmens betrachten würden? Klaus: In der Automobilindustrie ergibt sich ein Verhältnis des von uns geschätzten branchenweiten „downstream“ Logistikkostenanteils von ca. vier Prozent zu fünf bis sechs Prozent, die unter Einbeziehung der „upstream“ Kosten in den Buchhaltungen der Hersteller erscheinen. LOGISTIK inside: Damit klären sich im Bereich der Automobilindustrie die Differenzen zwischen den Ergebnissen der TU-Berlin-Studie und ihrer Studie doch zum größtenteil auf. Aber wie erklären Sie sich die immer noch sehr großen Differenzen im Handel? Klaus: Das ist richtig. Beim Handel denke ich, dass es ein Problem der klaren Bezeichnung der Bezugsgrößen ist. Wenn in der der TU-Berlin-Studie von „27,6 Prozent Anteil der Logistik an den Kosten“ gesprochen wird, dann wird sich dies wohl auf die reinen Eigenkosten des Handels – also ohne die Bezugskosten für Waren – beziehen. Das ist aber leider dort nicht klargestellt. Jedenfalls ist es unmöglich, dass in dem kumulierten 1370 Milliarden Euro Umsatzvolumen des deutschen Groß- und Einzelhandels ein Logistik-Leistungsvolumen von 378 Milliarden Euro steckt. LOGISTIK inside: Basis für Ihre Berechnungen des Gesamtlogistikmarktes und des Anteils der Logistikkosten über alle Branchen hinweg sind verschiedene amtliche Statistiken. Aber wie ergeben sich ihre Branchenwerte bei den Logistikkosten? Klaus: Im wesentlichen durch Einzeluntersuchungen. Im Laufe der Jahre haben wir an unserem Lehrstuhl und der Nürnberger Fraunhofer Logistik-Arbeitsgruppe durch viele Projekte Einblicke in die Kostenrechnung der verschiedenen Branchen bekommen. Ergänzt durch veröffentlichte Untersuchungen und auch durch Schätzungen haben wir unsere Matrix von Branchenprozentsätzen gebildet. LOGISTIK inside: Wie genau sind Ihre Matrixdaten? Klaus: Die Schätzfehler können bei den einzelnen Branchen plusminus 20 Prozent betragen. In unserem Beispiel der Automobilhersteller, wo der Anteil der Logistikkosten nach unserer „downstream“ Logistikdefinition im Mittel bei vier Prozent liegt, reden wir also über eine Bandbreite von plusminus 0,8 Prozent. Bei unserem berechneten Anteil der Logistikkosten am Gesamtumsatz der deutschen Wirtschaft von 2,5 Prozent gehe ich von einer kleineren Schätzfehler-Bandbreite von plusminus 5 Prozent aus, also absolut nur etwa 0,1 Prozent – den in dieser Zahl heben sich nach der statistischen Wahrscheinlichkeit viele der möglichen Schätzfehler auf der Branchenebene gegeneinander auf. LOGISTIK inside: In Summe betrachtet – liegt der Unterschied zu anderen Studien vielleicht auch darin begründet, dass Sie einen volkswirtschaftlichen Ansatz gewählt haben? Klaus: Das kann man ruhig so sagen. Mein Anliegen in dieser Arbeit war es ist nicht so sehr, Zahlen für direktes Benchmarking zu liefern, sondern die Bedeutung der Logistik als Wirtschaftsbranche dazustellen. Und man darf nicht übersehen: trotz meiner gegenüber anderen Studien geringeren Prozentwerte zeigt die Studie, dass die Logistikbranche mit ihrem 150 Milliarden Euro Umsatzwert-Volumen zu den vier bedeutendsten deutschen Industriebranchen gehören würde, wenn die amtlichen Statistiken sie denn als eigenständige Branche führen würde. LOGISTIK inside: Also die Wichtigkeit der Logistikbranche bleibt trotz niedriger Kostenanteile ungebrochen? Klaus: Ja auf jeden Fall. Was mir noch wichtiger ist. Die unternehmerische und gesamtwirtschaftliche Bedeutung der Logistik kann nur ganz unzureichend nach der Höhe der Aufwendungen bemessen werden, die die Wirtschaft dafür macht. Gerade bei hochwertigen Gütern ist der Anteil der Logistikkosten sehr gering. Und trotzdem hat die Logistik beispielsweise in der Hightech- oder Modebranche die größte Bedeutung als Erfolgsfaktor am Markt, denn sie bestimmt in hohem Masse die Qualität der Erfüllung der Kundenbedürfnisse, die Schnelligkeit der Reaktionen auf veränderte Marktbedürfnisse, damit letztlich die Profitabilität und Überlebensfähigkeit der Unternehmen. LOGISTIK inside: Wie beurteilen Sie denn die Entwicklung der Logistikosten? Klaus: Trotz steigender Anforderungen wie kleinere Losgrößen und größere Transportweiten werden die Anteile der Logistikkosten an den Gesamtkosten wirtschaftsweit in den nächsten Jahren sinken. Denn Jahr für Jahr werden die Logistikleistungen durch große Rationalisierungserfolge relativ günstiger. Fast jedes Logistik-Outsourcing bedeutet ja, dass eine vergleichbare, bisher von Industrie- und Handel selbst erstellte Leistung, durch einen Dienstleister besser gebündelt und rationeller erstellt wird Solche Rationalisierungseffekte in der Logistik sind z.B. in den der Automobil- und Konsumgüterindustrie etwa geringer, weil schon seit Jahren an deren Ausschöpfung gearbeitet wird, sie sind besonders hoch in anderen Branchen, die noch ganz am Anfang ihrer logistischen Entwicklung stehen. Dazu zähle ich insbesondere z.B. die Möbelbranche, sowie die Bereiche Healthcare und die riesige Bauwirtschaft. LOGISTIK inside: Herr Professor Klaus, vielen Dank für das Gespräch
Interview: Die wahren Kosten der Logistik
Im Gespräch mit Professor Peter Klaus von der Universität Nürnberg-Erlangen über seine Kritik an der TU-Berlin-Studie und die wahren Kosten der Logistik.