Elektronische Augen

Am Anfang stand bei Bernd Bretz der Ärger über ein neues bürokratisches Hindernis. Der Logistikleiter des Paderborner Fertigungsdienstleisters für elektronische Komponenten (EMS) Periscope musste sich den Kopf darüber zerbrechen, wie er bei seinen EU-Kunden die sogenannte Gelangensbestätigung einholen sollte. Diese Bestätigung ist für die deutschen Steuerbehörden die Voraussetzung für eine umsatzsteuerfreie Lieferung in andere EU-Staaten. Bretz und sein Team lösten das Problem mittels einer sogenannten Visibility & Collaboration Platform (VCP) des Stuttgarter Softwarehauses AEB. Die VCP ist eine Internetplattform, die mit der AEB-Logistikabwicklungs-Software Assist4 verbunden ist, mit der Periscope seit vielen Jahren arbeitet. Die EU-Kunden bekommen nun nach Auslieferung per Mail einen Link zugesendet und können die Gelangensbestätigung direkt auf der Web-Plattform ausfüllen. Gleichzeitig sammelt das System automatisch die elektronischen Abliefernachweise der Logistikdienstleister ein, die im Auftrag von Periscope Waren ins EU-Ausland liefern. Der ungeliebten Nachweispflicht wird also ohne großen manuellen Aufwand Genüge getan. Bretz erkannte schnell, dass diese Visibility & Collaboration Platform weit mehr Potenzial hat, als den Wissensdurst der Steuerbehörden zu stillen. "Wir brauchten mehr Transparenz über den Status von Waren, die auf der ganzen Welt unterwegs von uns zu unseren Kunden sind", begründete Bretz den Einstieg in ein weiteres Supply-Chain-Projekt. Hoher Kommunikationsaufwand Als Fertigungsdienstleister baut Periscope im Auftrag seiner Kunden Elektronikprodukte und übernimmt auch die komplette Distributionslogistik. Ein Beispiel sind Foto-Kiosk-Systeme, an denen Verbraucher beispielsweise in Drogeriemärkten ihre digital erstellen Fotos ausdrucken können. Eine andere wichtige Produktgruppe sind komplexe Systeme für den Zahlungsverkehr. In diesem Segment wickelt Periscope im Auftrag eines Großkunden die weltweite Distributions-/Exportlogistik ab. Diese Systeme müssen allerdings nicht nur geliefert, sondern auch aufgestellt, installiert und in Betrieb genommen werden. Deshalb ist es besonders wichtig, dass die Konzern-Landesgesellschaften des international operierenden Großkunden als Schnittstelle zum Endkunden genau wissen, wo ihre Sendung sich aktuell befindet und welchen Status sie hat. Schließlich sind sie dafür zuständig, die schlüsselfertige Inbetriebnahme beim Endkunden zu organisieren und müssen Mitarbeiter sowie Dienstleister entsprechend informieren. Bis zur Einführung der Plattform erforderte es einen hohen Kommunikationsaufwand der Periscope-Logistikmitarbeiter, die entsprechenden Auskünfte zu geben. Die Sendungsstrukturen erfordern den Einsatz ganz unterschiedlicher Logistikdienstleister - vom Expressdienst über die Stückgutspedition bis zum Speziallogistiker. Deshalb mussten die Logistikmitarbeiter von Periscope bei Kundennachfragen regelmäßig die verschiedenen Sendungsverfolgungssysteme der Dienstleister konsultieren oder telefonisch recherchieren. Heute jederzeit auskunftsfähig "Durchgehende Sendungsverfolgung funktioniert eigentlich nur bei Amazon. Jeder Spediteur hat im Grunde ein proprietäres System, das auf verschiedenen Standards aufsetzt", beschreibt Periscope-Logistikleiter Bretz das Problem. "Den großen Datensammler, wie es in der Industrie SAP ist, gibt es in der Logistik nicht." Von diesem Problem berichten auch andere Verlader: Ähnlich klingende Stati sind bei unterschiedlichen Spediteuren durchaus unterschiedlich definiert. Und die Sache wird noch komplexer, wenn man weiß, dass jeder Spediteur mit mehreren Carriern, etwa Reedereien, zusammenarbeitet, die ebenfalls eine eigene Tracking- und Tracing-Philosophie haben. "Je detaillierter man eine Sendungsauskunft braucht, desto schwieriger wird es", bestätigt Bretz. Nach den guten Erfahrungen in Sachen Gelangensbestätigung beschloss der Logistikmanager, die VCP-Plattform auch dazu zu nutzen, mehr Transparenz über die Supply Chain herzustellen. Im nun folgenden IT-Projekt ging es darum, die Plattform in die Logistikprozesse einzubinden. Eine der wichtigsten Entscheidungen, die getroffen werden mussten, war es, eine Referenz zu finden, anhand derer eine Sendung während des gesamten Lieferprozesses in den IT-Systemen identifizierbar ist. Bei Periscope entschied man sich für die Lieferscheinnummer als einheitliche Referenz für alle Vorgänge. Sie wird generiert, sobald der SAP-Lieferauftrag aus dem System des Kunden vorliegt und wird in allen Transportaufträgen und Avisen elektronisch an die Partner in der Lieferkette weitergegeben. Bevor eine Sendung den Versandbereich von Periscope verlässt, werden in der Logistikabwicklungs-Software Assist4 alle notwendigen Transport-, Export- und Zoll-Dokumente erstellt. Alle mit der Sendung zusammenhängenden Daten werden an die VCP übergeben. Die zuständigen Mitarbeiter des Periscope-Kunden können ab dem Zeitpunkt des Warenausgangs über ihr eigenes SAP-System mittels eines Links auf die Status-Informationen in der VCP zugreifen - und sind so gegenüber ihren eigenen Kunden jederzeit auskunftsfähig. Die Statusmeldungen der Logistikdienstleister fließen über Standardschnittstellen in die VCP ein. Die Programmierung dieser Schnittstellen erwies sich als kein besonders großes Problem. "Das hat AEB für uns gemacht", sagt Bretz. AEB verfügt standardmäßig ohnehin über die Schnittstellen zu den Systemen der größeren Logistikdienstleister und kann die Plattform deshalb entsprechend unkompliziert konfigurieren. Für Periscope blieb allerdings die Entscheidung, welche Sendungsstati der Kunde zu sehen bekommt. Das Unternehmen entschied sich in der ersten Umsetzungsphase gegen das volle Programm und zunächst für eine kleinere Auswahl prägnanter Auftragsstati im Sinne echter Transparenz. Noch befindet sich die Sendungsauskunft über die VCP bei Periscope in einem frühen Stadium. Den Nutzen hat Bretz aber vor Augen: "Die Belastung sowohl der Auftragsabwickler unserer Kunden als auch unserer eigenen Logistikmitarbeiter sinkt drastisch. Und unsere Kunden bekommen rund um die Uhr zuverlässige Auskunft über den Status ihrer Sendung. Dafür reicht ein Blick ins System." Erfolgsentscheidend für das Projekt sei, dass möglichst alle Transportdaten in die VCP einfließen - unvollständige oder unzuverlässige Informationen würden das Vertrauen in die Aussagefähigkeit des Systems untergraben. Verbindliche Prozess-Vorgaben Während Bretz und sein Team ihre Sendungen von Deutschland aus in alle Welt verfolgen, arbeitet Christian Scharf exakt in die andere Richtung. Scharf ist Logistikleiter bei Erdipol, der Dienstleistungstochter des Hamburger Handelshauses Wünsche. Wünsche wurde durch die weltweite Beschaffung von Nahrungsmittelkonserven für deutsche Discounter groß. Mittlerweile handeln Wünsche-Tochterfirmen auch mit Elektrogeräten, Hartwaren, Textilien, Leuchtmitteln, Fahrradzubehör, Sportartikeln und anderen Konsumgütern. 20.000 Standardcontainer bringen sie jedes Jahr von den weltweiten Beschaffungsmärkten - vorwiegend aus Asien - nach Europa, USA, Australien und Russland. Aufgabe von Erdipol ist es, diese Warenströme zu steuern und zu überwachen. Neben einer Vielzahl von Produzenten sind auch 60 Logistikpartner zu koordinieren - Speditionen, Reedereien, Lagerhalter. Um Transparenz über die Lieferketten herzustellen, nutzt Erdipol die Supply-Chain-Software OSCA des Wittener Softwarehauses Setlog. Die Arbeit von Scharf und seinem Team beginnt unmittelbar nach Abschluss des Kaufvertrages zwischen der jeweiligen Wünsche-Handelstochter und dem Produzenten. "Ausgehend vom Kundenendtermin rechnen wir mittels des Systems zurück, bis wann welche Tätigkeit im Produktions- und Lieferprozess abgeschlossen sein muss", sagt Scharf. OSCA hat Anschluss an eine Datenbank, in der sowohl Laufzeiten als auch Transportkonditionen hinterlegt sind. Ergebnis ist ein präziser Fahrplan für jede Bestellung. Aufgrund der systemgesteuerten Terminkalkulation erhalten Lieferanten, Spediteure, Prüflabore und andere Dienstleister sowie die internen Kunden aus der Wünsche-Gruppe verbindliche Vorgaben, bis wann welcher Prozessschritt erledigt sein muss. Beispiele: Der Produzent bekommt einen genauen Termin, bis wann er die bestellte Ware zur Abholung bereitgestellt haben muss. Der beauftragte Spediteur bekommt eine ebenso klare Vorgabe, wann er die Sendung abholen kann und bis wann sie im Hafen zur Verschiffung bereitstehen muss. Der Fahrplan ist nach Abstimmung mit den beteiligten Firmen Basis für eine systemgestützte Terminverfolgung. Produzenten und Dienstleister bestätigen im System, sobald sie die ihnen zugewiesene Aufgabe erledigt haben. Durch einen Soll-Ist-Vergleich erkennt OSCA Abweichungen von dem Terminplan und schlägt dann über eine Frühwarnfunktion Alarm. Die Erdipol-Mitarbeiter können nun den Grund für die Abweichung klären und Gegenmaßnahmen ergreifen. Viele Verzögerungen können schon im Ansatz vermieden oder mit minimalem Aufwand entschärft werden, etwa durch Umbuchung von Containern auf ein schnelleres Schiff. Eine so engmaschige Lösung bietet nicht nur in der Terminverfolgung Vorteile. Transaktionsabhängige Kosten können den jeweiligen Sendungen zugeordnet werden. Insbesondere im Handel, wo schon kleine Beträge über Gewinn oder Verlust einer Transaktion entscheiden, ist dies ein wichtiger Beitrag zu mehr Transparenz. Kommentar Grenzenlose Transparenz ist eine Utopie Vom eigenen System aus in Lagerbestände, Produktions- und Lieferpläne der Lieferanten und deren Vorlieferanten schauen zu können: Diese Vision einer transparenten Supply Chain beschwören nicht nur IT-Hersteller, sondern auch Logistikmanager aus der verladenden Wirtschaft und führende Logistikdienstleister. Experten sind sich einig, dass die dazu erforderliche Technik bereits zur Verfügung steht. Das Internet ist als Basistechnologie weltweit verbreitet, Integrationsplattformen und geeignete SCEM-Software, die relevante Events während eines Logistikprozesses aufzeichnet, ist seit weit mehr als zehn Jahren verfügbar.Von teilweise spektakulären Einzelbeispielen abgesehen, sind die Lieferketten spätestens ab dem zweiten Glied intransparent. Das hat allerdings nichts mit IT zu tun, sondern mit fehlendem Vertrauen. Händler weigern sich aus gutem Grund, ihren Kunden Vorlieferanten und Lieferwege preiszugeben. Industrieunternehmen geben ihren Logistikdienstleistern nur die nötigsten Informationen - aus Angst, dass diese auch für die Konkurrenz transportieren und lagern könnten. Die Logistikdienstleister legen wiederum ihre Kapazitäten ungern offen, um beispielsweise in Engpasssituationen selbst entscheiden zu können, für welchen Kunden welcher Lkw rollt.Ein zweiter Grund für die vielen blinden Flecken in der Lieferkette: Zwar ist es anerkannt, dass mithilfe von mehr Transparenz Bestände abgebaut werden und Sondertransporte vermieden werden können. Es gibt aber bisher wenig überzeugende Beispiele, wie Lieferant, Dienstleister und Kunde den Nutzen verbesserter Transparenz unter sich aufteilen können. Mitunter ist es sogar so, dass der Nutzen bei einem Akteur anfällt und die Investitionen bei den Anderen. Hier fehlen nach wie vor überzeugende Lösungen für Win-win-Situationen. helBjörn Helmke, VR-Korrespondent in Hamburg