Auf dem Weg zum Vertrag 4.0

Industrie 4.0, Digitalisierung und Automatisierung sind auf dem Vormarsch und sorgen so für deutlich mehr Effizienz und Effektivität in den Unternehmen. So stoßen bereits heute Lagersysteme bei einer zuvor definierten Menge Nachbestellungen an und sorgen dadurch für Nachschub. Und technisch geht da noch viel mehr. Die technologischen Enabler Solange übereinstimmende, durch Menschen getroffene Willenserklärungen vorliegen, ist eine solche unterstützende Automatisierung rechtlich auch unproblematisch. Wie verhält es sich allerdings, wenn die Verhandlung und der Abschluss eines Vertrages ohne menschliche Interaktion autonom durch Maschinen erfolgen? Wie können bei der anschließenden Durchführung des Vertrages auch die Einhaltung der Vertragsbedingungen und die Maßnahmen zur Erfüllung der vertraglichen Pflichten, wie zum Beispiel die Bezahlung, automatisiert erfolgen? Wie muss eine rechtssichere Nachweisführung aller vertragsrelevanten Aktivitäten technisch gestaltet sein? Wie können Konfliktfälle rein datenbasiert behandelt werden? Die Blockchain-Technologie spielt für Fragen dieser Art heute schon eine besondere Rolle (siehe Kasten S. 49). Überall dort, wo Transaktionen (etwa ein Vertragsabschluss, eine Bezahlung) oder Aussagen (etwa zu Produktbeschaffenheit oder Arbeitsbedingungen) nachgewiesen werden müssen oder der ordnungsgemäße Transfer von Gütern zu belegen ist (zum Beispiel Wareneingang), bieten Blockchains attraktive Lösungen. Mittels blockchainbasierter "Smart Contracts" (intelligente Verträge - Anmerkung der Redaktion) können die Verhandlung und die Ausführung von Verträgen automatisiert und die Umsetzung überwacht werden. Bezahlprozesse, die sich aus den vertraglichen Zahlungsverpflichtungen ergeben, lassen sich über Smart Contracts ebenfalls vollständig automatisiert abwickeln. Dadurch ermöglicht die Blockchain-Technologie die Synchronisation des Materials und In formationsflusses mit dem Finanzfluss. So kann die seit Jahrzehnten geforderte integrierte Steuerung aller drei Flüsse in Wertschöpfungsnetzen endlich Realität werden. Der Einsatz von Blockchains heißt dabei keineswegs, dass vertragsbezogene Informationen Dritten zugänglich sein müssen beziehungsweise dürfen. Vielmehr muss der Herausforderung begegnet werden, unternehmerische Interessen und die rechtlichen Anforderungen hinsichtlich des Datenschutzes und der Geschäftsgeheimnisse technisch abzubilden. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, dass die Anforderungen an einen rechtskonformen und sicheren Einsatz von Blockchain-Technologien geklärt werden, sodass sich die Entscheidung eines Unternehmens für die Einführung der Technologie nicht verzögert oder gar ausbleibt. Insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen sind darauf angewiesen, bereits vor der Nutzung von Blockchains und Smart Contracts umfangreiche Testszenarien durchzuführen, um förderliche sowie hinderliche Aspekte in ihrem individuellen Wertschöpfungsprozess zu identifizieren und ihr rechtliches und auch technologisches Zusammenspiel mit anderen Akteuren neu auszurichten. Pilotprojekt "Industrie 4.0 Recht-Testbed" Zur Untersuchung und Erprobung einer rechtskonformen Automatisierung von Vertragsprozessen in Wertschöpfungsnetzwerken mittels Blockchains und Smart Contracts wurde 2019 das vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie geförderte Projekt "Industrie 4.0 Recht-Testbed", kurz "Recht-Testbed" gestartet. Der Fokus dieses Projekts liegt auf dem juristischen und technischen Entwickeln, Testen und Validieren von Geschäftsvorfällen in der Industrie 4.0. Dies ermöglicht es, technische, juristische und wirtschaftliche Risiken von automatischer Verhandlung und Abwicklung von Verträgen zu minimieren. Im Kern adressiert das Vorhaben folgende Forschungsfragen: "Wie können automatisiert Verträge zwischen Maschinen beispielsweise über Transportdienstleistungen, den Kauf von Gütern und Produktionsaufträge geschlossen werden? Wie gestalten sich Vertragsanpassungen?" Dazu wird ein öffentlich zugängliches, digitales Testbed (Experimentierfeld - Anm. der Redaktion) erzeugt, das von verschiedensten Unternehmen genutzt werden kann. Das Recht-Testbed bietet juristisch valide entwickelte Funktionalitäten, die insbesondere bei kleinen und mittelständischen Unternehmen direkt zum Einsatz kommen können. Smart Contracts, die für autonome Abwicklungen von Geschäftsprozessen verwendet werden können, sind mittels Blockchain -Technologien implementierbar. Durch die Bereitstellung von öffentlichen Schnittstellen (API) wird sichergestellt, dass insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen ihre Soft- und Hardware (zum Beispiel ERP, LVS, MDE, TMS, cyberphysische Systeme) gegen die Systeme und die Simulationsumgebung des Experimentierfeldes testen können. Außerdem enthält das Testbed Ansätze und Werkzeuge, mit denen IT Sicherheits- und Datenschutzaspekte in diesem Zusammenhang überprüft werden können. Über ein offenes Depot (Repository) können Blaupausen für Verträge und Implementierungen heruntergeladen, genutzt und weiterentwickelt werden. Die Basis für die Arbeiten im Projekt bilden die aktuellen gesetzlichen Grundlagen. Die Initiative für das Forschungsprojekt "Industrie 4.0 Recht -Testbed" entstand in der Plattform Industrie 4.0. Folglich ist das Recht-Testbed-Projekt eng mit der Plattform Industrie 4.0 (PI40) verbunden. So leitet Professor Georg Borges vom Institut für Rechtsinformatik (IfR) die eigens innerhalb der Arbeitsgruppe "Rechtliche Rahmenbedingungen" für das Projekt gegründete Unterarbeitsgruppe "Recht-Testbed". Der stattfindende Austausch mit den Vertretern der Plattform Industrie 4.0 sorgt zum einen für die Berücksichtigung der Praxisanforderungen, die durch die in der Plattform aktiven Unternehmen formuliert werden. Zum anderen stellt die Kooperation sicher, dass für die Arbeiten im Recht-Testbed-Projekt weitere zentrale Entwicklungen im Bereich Industrie 4.0 berücksichtigt werden, wie unter anderem die Verwaltungsschale und Datenräume. Partner des Forschungsprojekts "Industrie 4.0 Recht -Testbed" sind das Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML), das Fraunhofer Institut für Software und Systemtechnik (ISST), die Universität des Saarlandes mit dem Institut für Rechtsinformatik (IfR) sowie die Ruhr -Universität Bochum mit dem Horst Görtz-Institut für IT -Sicherheit (HGI). Die Projektleitung für das Recht -Testbed liegt bei Martin Böhmer vom Fraunhofer IML. Das Projekt ist im Juni 2019 gestartet und läuft bis Mai 2023. Simulation diverser Szenarien Um die Prozesse und Ergebnisse des Recht-Testbed-Projektes im Sinne eines digitalen Experimentierfelds an greifbaren Anwendungsfällen zu erproben, werden verschiedene konkrete Szenarien simuliert. Dabei handelt es sich um typische Industrie-4.0-Geschäftsprozesse aus Logistik und Produktion. Konkret untersucht und umgesetzt werden die nachfolgend dargestellten zwei Anwendungsfälle. Dabei erfolgt jeweils auch die Betrachtung eines Störfalls, der technische und rechtliche Implikationen verursacht. Dadurch entstehen mehrere Szenarien der beiden Anwendungsfälle, die sowohl die erfolgreiche Durchführung als auch die Probleme und Unregelmäßigkeiten simulierbar machen (siehe Grafik 1, S. 50). Anwendungsfall "Produktion" Im Anwendungsfall "Produktion" geht es um die automatische Vertragsverhandlung und -abwicklung zwischen Kunden und Herstellern von Komponenten oder Bauteilen. Der Anwendungsfall "Produktion" spiegelt ein Wertschöpfungsnetzwerk im industriellen Umfeld wider. Im einfachsten Szenario erfolgt der Kauf der Komponenten oder Bauteile bilateral. In einem komplexeren Szenario werden Abhängigkeiten berücksichtigt, die sich aus der vorhandenen Mehrstufigkeit von Produktionsnetzwerken ergeben. So ist der Hersteller beispielsweise selbst wieder abhängig von den Kapazitäten der ihm vorgelagerten Produzenten beziehungsweise Lieferanten. Die Blockchain kann hier für die Erfassung der Ergebnisse einer Qualitätskontrolle zum Einsatz kommen, um in einem Störfall -Szenario fehlerhafte Produkte zu simulieren und den damit verbundenen Fragen zur Nachweisführung und Haftung in automatisierten Geschäftsprozessen zu begegnen. Anwendungsfall "Transport" Im Anwendungsfall "Transport" geht es um die automatisierte Aushandlung und Durchführung eines Transportvertrags zwischen Absendern und Logistikdienstleistern (siehe Grafik 1, S. 50). Im Anwendungsfall Transport wird der Transport von Waren innerhalb der EU abgebildet. Beim Transport von Waren geht es um Rechtsfragen, die sich im Rahmen von Frachtverträgen zwischen einem Absender und einem Logistikdienstleister ergeben. Die Blockchain dokumentiert im Rahmen der Durchführung des Trans portes unter anderem die Übernahme oder aber die Übergabe der Fracht. Verhandlungs- und Vertragsgegenstand können in einem Szenario auch Vertragsstrafen sein, die zum Beispiel unerwünschte Verspätungen, Stand- und Wartezeiten betreffen. Das Vorliegen und die Abwicklung eines solchen Falles erfolgt ebenfalls automatisiert durch Smart Contracts und die gesicherte Nachweisführung einer Blockchain. Beiden Anwendungsfällen ist gemein, dass die vertragsbezogene Interaktion nicht manuell durchgeführt wird, sondern automatisiert zwischen sogenannten Softwareagenten stattfindet. Intelligente Softwaresysteme übernehmen dabei stellvertretend für Unternehmen die Verhandlung, den Abschluss und die Überwachung der Durchführung des Vertrages. Eine wesentliche Herausforderung in den Phasen der Vertragsverhandlung und des Vertragsabschlusses besteht darin, vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Ziele und Strategien der Parteien zu einem rechtsverbindlichen Einvernehmen zu gelangen. In der Phase der Vertragsdurchführung bildet hingegen die Schaffung einer gesicherten, digitalen Nachweisführung zur maschinellen Überwachung der Vertragsabwicklung die zentrale Herausforderung. Experimentierfeld für Unternehmer Im Experimentierfeld selbst können Unternehmen die Automatisierung von Vertragsprozessen für sich erproben. Dafür werden zunächst verschiedene Szenarien angesehen und das Szenario ausgewählt, das auf den vorgestellten Anwendungsfällen basiert und dem eigenen Anwendungsfall der Firma ähnelt. Dieses Szenario kann danach über eine Konfiguration an die entsprechende Situation des Unternehmens angepasst werden. Dies geschieht etwa über die Festlegung der Vertragsgrundlagen oder die Einigung auf eine Verhandlungsstrategie. Anschließend wird das konfigurierte Szenario ausprobiert, indem die Verhandlung, der Abschluss und die Durchführung des Vertrages im Experimentierfeld simuliert werden, wobei je nach Automatisierungsgrad eine Interaktion mit menschlichen Benutzern oder realen technischen Systemen (zum Beispiel mobile Datenerfassungsgeräte zur Wareneingangsprüfung) erfolgt. Aus dieser Simulation gehen Berichte hervor, die die Verhandlung zusammenfassen, Auskunft über den geschlossenen Vertrag liefern und eine Übersicht geben über vertragsrelevante Ereignisse und automatisch eingeleitete Maßnahmen, die im Rahmen der Vertragsdurchführung entstanden sind, etwa Bezahlung. Die Auswertung dieser Informationen unterstützt die (Weiter-) Entwicklung der durch das Unternehmen eingesetzten IT und Hardware für die Automatisierung der Vertragsprozesse (siehe Grafik 2, S. 50). Professor Michael ten Hompel, geschäftsführender Institutsleiter des Fraunhofer IML, Martin Böhmer, Abteilungsleiter "Informationslogistik und Assistenzsysteme" des Fraunhofer IML, Benjamin Korth, stellvertretender Abteilungsleiter "Informationslogistik und Assistenzsysteme" des Fraunhofer IML Daten + Fakten - Was ist eine Blockchain? Eine Blockchain ist ein dezentraler, verteilter Datenspeicher. Sie ermöglicht den Teilnehmern eines Netzwerks einen sicheren Datenaustausch ohne Rückgriff auf einen Mittelsmann (Intermediär). Dies ist beispielsweise für Unternehmen interessant, die bislang bei Kooperationen auf die Absicherung durch eine zentrale Instanz, wie etwa Notare, Banken oder Versicherungen, angewiesen sind.Kern der Blockchain -Technologie ist das sogenannte "Distributed Ledger", ein verteilt gespeichertes Logbuch, das Einträge mit Informationen enthält. Diese Einträge, auch Transaktionen genannt, sind mit einem Zeitstempel versehen und werden zu Blöcken zusammengefasst. Die Blöcke sind durch einen kryptografischen Schlüssel - den Hash -, der als ein digitaler Fingerabdruck verstanden werden kann, manipulationssicher. Jeder neue Block beinhaltet den Hash seines Vorgängers als Referenz. Dadurch entsteht eine Verkettung zwischen den Blöcken die "Blockchain".Bei einer Unterbrechung der Hash-Folge oder der inhaltlichen Veränderung von einem der Blöcke würde dies durch integrierte kontinuierliche Prüfmechanismen unmittelbar als Manipulation identifiziert werden. Aufgrund unterschiedlicher Zielsetzungen besteht ein Unterschied zwischen öffentlichen (Public) und nichtöffentlichen (Private beziehungsweise Consortium) Blockchains: Public Blockchains sind öffentliche Netzwerke, die vorrangig für das Handeln und Tauschen von Kryptowährungen genutzt werden. Demgegenüber werden Systeme als Private oder aber Consortium Blockchains bezeichnet, die nur für ein abgeschlossenes Konsortium zugänglich sind. Dies können zum Beispiel mehrere kooperierende Unternehmen oder Organisationen innerhalb eines Netzwerks sein. Autoren Professor Michael ten Hompel, geschäftsführender Institutsleiter des Fraunhofer IML Professor Michael ten Hompel ist Ordinarius des Lehrstuhls für Förder- und Lagerweisen (FLW) der TU Dortmund und geschäftsführender Institutsleiter am Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik (IML) in Dortmund. Er gilt als einer der Väter des Internets der Dinge. Ten Hompel studierte Elektrotechnik an der RWTH Aachen und promovierte an der Universität Witten/Herdecke. Vor seiner wissenschaftlichen Tätigkeit war er Unternehmer. So gründete er unter anderem 1988 das Unternehmen GamBit (heute Vanderlande Industries) und leitete bis zum Jahr 2000 das Unternehmen als geschäftsführender Gesellschafter. Martin Böhmer, Abteilungsleiter "Informationslogistik und Assistenzsysteme" am Fraunhofer IML Martin Böhmer leitet die Abteilung "Informationslogistik und Assistenzsysteme" am Fraunhofer IML in Dortmund, bei dem er seit 2010 tätig ist. Zu seinen thematischen Schwerpunkten zählen das Management von Logistik-IT und das betriebliche Informationsmanagement in logistischen Ökosystemen. Vor 2010 war Böhmer bei einem australischen Logistikdienstleister und einem IT-Consulting-Unternehmen in Bochum tätig. Sein Studium an der Technischen Universität Dortmund schloss er mit einem Diplom in Informatik und einem Diplom in Logistik ab. Anschließend promoviert er berufsbegleitend an der Fakultät Maschinenbau der TU Dortmund. Benjamin Korth, stv. Abteilungsleiter "Informationslogistik und Assistenzsysteme" am Fraunhofer IML Benjamin Korth ist stellvertretender Abteilungsleiter und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung "Informationslogistik und Assistenzsysteme" am Fraunhofer IML in Dortmund. Mit seinem Team arbeitet er dort an Systemen zur Planungs- und Entscheidungsunterstützung, durch die Mitarbeiter bei langfristigen Planungen, aber auch bei Ad-hoc Entscheidungen, unterstützt werden. Hier sind insbesondere seine Kenntnisse über die Entwicklung intelligenter Software-Agenten, Simulationen und Optimierung nützlich, die er zuvor beim Lehrstuhl FWL der TU Dortmund, in der Abteilung Supply Chain Engineering des IML und während seines Informatikstudiums an der TU Dortmund erlangt hat.

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