Tiefer Fall

Tiefer FallDank geschickter Unternehmensführung in Osteuropa entwickelte sich Ricö zu einem der größten Transportunternehmen Deutschlands. Am Ende hatte Ricö Schulden in Millionenhöhe angehäuft. Damit nicht genug: Nun erhebt die Staatsanwaltschaft massive Vorwürfe. Am Donnerstagmorgen, 24. April, platzte die Bombe: Beamte des Landeskriminalamts Niedersachsen durchsuchten zeitgleich die Wohnräume des geschäftsführenden Ricö-Gesellschafters Jens P. sowie der beiden vormaligen Geschäftsführer (bis 5. März 2008) in Osterode, die Speditionsräume des Transportunternehmens in Osterode und in Schopsdorf (bei Magdeburg). Kisten von Unterlagen seien beschlagnahmt worden, heißt es in der gemeinsamen Meldung des Landes-kriminalamts Niedersachsen und Staatsanwaltschaft Braunschweig. Freiheitsstrafe bis zu zehn JahrenDie Vorwürfe der Behörden gegen den Beschuldigten sind massiv: "Verdacht der Insolvenzverschleppung, Untreue, Betrug sowie Verdacht auf "unrichtige Darstellung" (Bilanzfälschung)", zählt Jutta Schlecht, Staatsanwältin bei der Staatsanwaltschaft Braunschweig auf. Vorwürfe, die mit hohen Freiheitsstrafen geahndet werden können. So droht allein bei Betrug eine Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren, in besonders schweren Fällen sogar von bis zu zehn Jahren. Der Beschuldigte befinde sich nach Angaben der Staatsanwältin auf freiem Fuß. Zu den weiteren Beschuldigten wollte Schlecht "aus ermittlungstechnischen Gründen" nichts sagen. Wann es zum Verfahren komme, sei zum heutigen Zeitpunkt nicht absehbar.Die jüngsten Durchsuchungen der Behörden sind vorläufiger Schlusspunkt einer Kette von Ereignissen, die in den letzten Monaten das einstige Vorzeige-Transportunternehmen Ricö in Osterode/Harz überrollt haben. Noch im letzten Jahr hatte der Osteuropa-Spezialist mit beeindruckenden Zahlen geglänzt: über 3200 Mitarbeiter, 2100 Fahrzeuge und 3100 Auflieger waren für Ricö im Einsatz gewesen. Und die Bilanz hatte zum 31. Dezember 2006 einen Umsatz von 300 Millionen Euro ausgewiesen. Am 29. Februar 2008 dann der jähe Absturz: Björn Gröschner, einer der drei vormaligen Geschäftsführer – er hat inzwischen das Unternehmen verlassen –, räumte gegenüber der VerkehrsRundschau Zahlungsschwierigkeiten seines Unternehmens ein. Als Gründe nannte er Außenstände im Millionen-Euro-Bereich. Was er seinerzeit nicht sagte, dass am Tag zuvor angeblich rund 120 Banken- und Gläubigervertreter dem Unternehmen bereits den Geldhahn zugedreht hatten, da Ricö die Kontokorrentkonten bei den Banken zu diesem Zeitpunkt schon mit 40 Millionen Euro ausgeschöpft haben soll. Das schreibt zumindest Creditreform.Die Folgen der Krise wurden bald unübersehbar. So berichtete Polskaweb News am 4. März 2008 von hunderten von LKW, die in Polen, Kaliningrad und der Ukraine auf den Straßen rumstünden, sowie von Fahrern, die weder Geld zum Tanken noch für eine Fahrkarte nach Hause hätten, da ihnen alle Firmenkreditkarten gesperrt worden seien. Nur einen Tag später, am 5. März 2008, meldete Ricö am Amtsgericht in Osterode Insolvenz an. Auf mehr als 330 Millionen Euro sollen sich zuletzt die Verbindlichkeiten belaufen haben, zitiert Creditreform einen Zeitungsartikel vom 4. März 2008. Was aber führte zum tiefen Absturz des Unternehmens? Spricht man darüber mit anderen Spediteuren, stößt man auf eine Mauer des Schweigens. Hinter vorgehaltener Hand hört man viele Gerüchte, aber wenig Konkretes. Einer der wenigen, der offen über Ricö spricht, ist Adalbert Wandt, einer der beiden Geschäftsführer der Wandt Spedition Transportberatung GmbH in Braunschweig und Präsident des Gesamtverbandes Verkehrsgewerbe Niedersachsen (GVN). Als Braunschweiger Spediteur kennt er das Transportunternehmen quasi aus nächster Nähe. Niedrigpreise überzeugten VWRicös Schwerpunkt sei der Osteuropaverkehr gewesen, erzählt Wandt. Außer in Deutschland habe das Unternehmen in Polen, in Russland und der Ukraine Niederlassungen und Repräsentanzen gehabt. Dank dieser strategischen Aufstellung, vermutet er, habe das Unternehmen zu sehr niedrigen Preisen anbieten können. Branchenkenner haben von Kilometerpreisen gehört, die bei 80 bis 90 Cent gelegen haben sollen. Möglich war diese Preisgestaltung laut Wandt aus dreierlei Gründen: Erstens habe Ricö in Osteuropa von den günstigeren Treibstoffpreisen profitiert. Zweitens lagen dort die Fahrerlöhne – zumindest bis zur EU-Erweiterung Ende 2004 – um ein Vielfaches unter den Entgelten in Deutschland. Und drittens, vermutet er, habe Ricö offenbar deutsche KFZ-Steuern gespart, da man die Zugmaschinen beispielsweise in Polen angemeldet habe. Nicht zuletzt dank der niedrigen Preise überzeugte Ricö so manchen Auftraggeber. Beispiel VW, wie Christoph Adomat, Sprecher des Automobilkonzerns bestätigt. Für 90 Relationen sei Ricö verantwortlich gewesen, national wie auch international, und dort vorwiegend nach Polen in das Zweigwerk Posen. Täglich rund 100 LKW-Fahrten seien damit verbunden gewesen. Auch heute, nach Insolvenzanmeldung, bediene Ricö noch zehn Relationen für VW. Und Adomat verleugnet nicht: "Der Preis war ein Hauptkriterium bei der Auftragsvergabe." Das alles ging so lange gut, bis die Spritkosten in Osteuropa stiegen und die Fahrer in diesen Ländern nicht mehr bereit waren, zu den früheren Niedriglöhnen zu fahren. Je mehr diese Kosten aber stiegen, desto schwieriger wurde es für das Unternehmen rentabel zu arbeiten, vermutet Wandt. Ricö das Genick gebrochen aber haben die hohen Außenstände. So begründete Björn Gröschner Ende Februar gegenüber der VR die Schieflage des Unternehmens. Ricö-Krise zieht weitere KreiseDoch offenbar ist das nur ein Teil der Wahrheit. Denn inzwischen erheben, wie beschrieben, die Staatsanwaltschaft Braunschweig und das LKA Niedersachsen schwere Vorwürfe: "Hintergrund der Ermittlungen ist der Verdacht, dass seit Sommer 2007 Vermögen der Gesellschaft in Form von Grundstücken, Immobilien und Fahrzeugen vor Insolvenzantragstellung beiseitegeschafft wurden, um diese in andere Unternehmen, an denen die Geschäftsführer zumindest beteiligt sind, zu überführen und damit der Insolvenzmasse zu entziehen." Darüber hinaus bestehe der Verdacht, so die Staatsanwaltschaft Braunschweig, "dass in großem Stil Fahrzeuge und Maschinen, die tatsächlich nicht existierten, an Leasinggesellschaften veräußert wurden". Damit dies aber nicht auffalle, seien diese Fahrzeuge und Maschinen umgehend von den Leasinggesellschaften zurückgeleast worden (s. obige Grafik) "Der Schaden dürfte im dreistelligen Millionenbereich liegen." Die Ricö-Krise zieht also weitere Kreise. Offenbar sind mehr Firmen von dem Fall betroffen, als es zunächst schien, zum Beispiel die Vermietfirma Pema, wie ein Branchenkenner behauptet, der nicht genannt werden will. Für Anfragen der VR war die Geschäftsführung der Vermietfirma letzten Montag telefonisch nicht zu erreichen. Auch der Miet- und Leasinganbieter Disko, Tochter von General Electric, soll, laut einem Unternehmer, mit Ricö zusammengearbeitet haben. Auf Anfrage gab sich das Unternehmen bedeckt. "Beachten Sie bitte", so eine Sprecherin, "dass wir als Leasing- und Bankgesellschaft grundsätzlich keinerlei Informationen bezüglich bestehender oder nicht bestehender Kundenbeziehungen an die Öffentlichkeit geben dürfen." Ricö selbst war letzten Freitag telefonisch nicht zu erreichen. Die drei ehemaligen Geschäftsführer sollen Medienberichten zufolge zwischenzeitlich ihr Amt niedergelegt haben. Nur einer zeigt sich in diesen Tagen hoffnungsfroh. Das ist Insolvenzverwalter Torsten Gutmann, Partner der Kanzlei Lüders Warneboldt Gutmann in Lehrte (s. Interview). Er führt seit 5. März die Geschäfte von Ricö und versucht zu retten, was noch zu retten ist. Inzwischen habe die Firma wieder ihre Geschäftstätigkeit in Osterode und Schopsdorf aufgenommen, sagt er. "Gut ein Drittel der ursprünglich 950 Mitarbeiter in Deutschland können ihren Arbeitsplatz behalten. 390 Beschäftigte mussten gekündigt werden." Gleichzeitig sucht Ricö noch Käufer für etliche der vielen Fahrzeuge. Gutmann ist guten Mutes: Bis Ende April sei die Zahlung der Gehälter auch für die gekündigten Arbeitnehmer gesichert gewesen, sagt er. "Und bis Mitte Mai haben wir einen Investor für Ricö gefunden". Die VerkehrsRundschau wird auch darüber berichten. ❙❚■ Eva Hassa, Michael Cordes, Rocco Swantusch

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