Land in Sicht

Manchmal kann der Blick zurück aufschlussreich sein. Wenn man sich beispielsweise die Vorhersagen zu den Umschlagszahlen der deutschen Nordseehäfen aus der Seeverkehrsprognose des Bundesverkehrsministeriums ansieht. Die sind - zugegeben - schon ein wenig älter und stammen aus dem Jahr 2014. 16,4 Millionen TEU (20 Fuß-Container) wurden damals für Hamburg im Jahr 2030 prognostiziert. Im Bremerhaven sollten 9,9 Millionen TEU umgeschlagen werden, im JadeWeserPort in Wilhelmshaven 3,4 Millionen TEU. Prognose nicht mehr zu halten Von diesen Zahlen sind die Häfen aktuell weit entfernt sind (siehe Tabelle Seite 25). Und schon jetzt kann man sagen, dass sie dorthin bis 2030 auch nicht mehr kommen werden. Beispiel Hamburg: Dort wurden 2010 bereits 7,9 Millionen TEU umgeschlagen. In den letzten neun Jahren kamen 1,4 Millionen dazu. Sollte dieses Wachstum beibehalten werden, käme man 2030 auf vielleicht 11 Millionen Container. Die prognostizierten 16,4 Millionen TEU sind außer Reichweite. Eine solche Lücke lässt sich auch bei den beiden anderen norddeutschen Seehäfen beobachten. Und jetzt kommt noch die Corona-Krise hinzu. Nach den Zahlen, die die Verkehrs-Rundschau in den Häfen abgefragt hat (siehe Seite 25), fallen die Einbußen nicht so hoch aus, wie man das angesichts der weltweiten Pandemie hätte erwarten können. So kann Bremerhaven mit 2,4 Millionen TEU im ersten Halbjahr 2020 fast die Hälfte der gesamten Mengen des Vorjahres (4,9 Millionen) verbuchen. Für 2020 rechnet man an der Weser dann auch mit 4,7 Millionen TEU: ein überschaubares Minus. Antwerpen gelingt es sogar, auf seinen Terminals im ersten Halbjahr 2020 ein leichtes Plus von 0,4 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum hinzuzaubern. Positive Anzeichen im zweiten Halbjahr Nicht so gut sieht es im JadeWeserPort in Wilhelmshaven aus. Die 222.397 Container zur Halbzeit 2020 bedeuten gerade mal ein Drittel des Aufkommens aus dem Jahr 2019. Auch Hamburg muss Verluste verkraften. Die TEU-Umschlagszahlen sind zweistellig um 12,4 Prozent eingebrochen. Hier macht sich die starke Abhängigkeit vom chinesischen Markt bemerkbar. "30 Prozent unserer Container kommen aus China. In Rotterdam beträgt dieser Anteil nur 24 Prozent", sagt Ingo Egloff. Die bisherigen Verluste wird Hamburg in diesem Jahr nicht mehr aufholen können, so der Vorstand von Hafen Hamburg Marketing. "Wir werden irgendwo zwischen 8,7 und 9,3 Millionen TEU landen", sagt er gegenüber der VerkehrsRundschau. Aber diese Zahlen sind ein Indiz dafür, dass es seit der zweiten Jahreshälfte besser läuft. "Vor allem bei den Importen sieht es gut aus. Bei den Exporten stochern wir mit der Stange noch ein wenig im Nebel, wie sich die Zahlen entwickeln werden", sagt Egloff. Zuversicht strahlt auch Burkhard Lemper aus. "Die Mengen in den Seehäfen kommen zurück, nur nicht sofort", sagt der Geschäftsführer am Institut für Seeverkehrswirtschaft und Logistik (ISL). Als Beispiel nennt der Professor an der Hochschule Bremen China, wo die Exporte wieder steigen, mit Folgen für die Seeschifffahrt: "Viele chinesische Häfen haben die Vor-Corona-Mengen bereits wieder überschritten", so Lemper. Ein weiteres Indiz für das anziehende Geschäft sind die Kapazitäten der aufgelegten Schiffe, also die Schiffe, die die Reedereien mangels Nachfrage aus dem Markt genommen haben. Ende Mai hatten die Reeder 2,7 Millionen TEU aus dem Markt genommen. "Jetzt sind es nur noch 800.000 TEU", sagt der Wissenschaftler. Für ihn ein deutliches Zeichen, dass die Trendwende eingeläutet ist. Die Entwicklung der Umschlagszahlen in den letzten Jahren zeigen jedoch, dass Antwerpen und Rotterdam stärker zulegen als ihre deutschen Wettbewerber. "Ein wesentlicher Grund dafür ist die Erreichbarkeit der Häfen", sagt Lemper. Dies trifft auf Hamburg mit der Elbe und auf Bremerhaven mit der Weser zu. Zwar wird die Elbe nochmals vertieft. "Aber für die Containerriesen mit einer Kapazität von 24.000 TEU sind die beiden Flüsse vollbeladen nicht befahrbar", sagt der Schifffahrtsexperte. Daher werden zunächst Rotterdam und/ oder Antwerpen angelaufen. Damit ist der Nachteil verbunden, dass die Transshipment-Sendungen dort ebenfalls häufig gelöscht werden. Das sind Container, die mit anderen Schiffen zu anderen Häfen, beispielsweise in die Ostsee, gebracht werden. "Hier verlieren Hamburg und Bremerhaven an Boden", sagt Lemper. Für die beiden Häfen doppelt schmerzlich, weil diese Container in der Umschlagstatistik zweimal gezählt werden: Einmal, wenn der Container vom großen Containerschiff heruntergeladen wird und noch mal, wenn er auf das Feederschiff kommt (oder entsprechend der umgekehrte Weg). Neben der Erreichbarkeit nennt Lemper als einen weiteren Nachteil von Hamburg und Bremerhaven die Eigentümerstruktur der Terminals. Während es in Antwerpen und Rotterdam reine Reederei-Terminals beispielsweise von Maersk oder MSC gibt, finden sich solche Terminals in Hamburg nicht und in Bremerhaven nur mit jeweils einer 50-prozentigen Beteiligung von Maersk (APMT) und MSC. "Die Reedereien versuchen die Auslastung ihrer Terminals zu erhöhen und lassen dann mehr Container über ihre eigenen Terminals laufen", sagt Lemper. Sogenannte Common-User-Terminals wie die von HHLA oder Eurogate, die für alle Reedereien offen sind, hätten in der Regel eine geringere Auslastung, weil sie mehr Kapazitäten vorhalten müssen. Zu den Stärken von Bremerhaven und vor allem auch Hamburg zählt Lemper das Hinterland und hier die Anbindung per Bahn. Gerade östlich des Rhein-Korridors hätten beide Häfen Vorteile gegenüber den Westhäfen. "Ein Manko sind hingegen die Wasserstraßen, die sind für hochleistungsfähige Binnenschiffstransporte nicht ausgelegt", sagt der Wissenschaftler. Auch die Erreichbarkeit per Lkw sei nicht immer optimal, weil die Zufahrten und Autobahnen häufig verstopft seien. Anders ist dies beim JadeWeserPort (JWP) in Wilhelmshaven. Dort ist die Lkw-Zufahrt laut Lemper zwar kein Problem. Bei der Schienenanbindung würde jedoch noch die komplette Elektrifizierung der Strecke Wilhelmshaven - Oldenburg fehlen. Doch ist hier Besserung in Sicht: "Die Elektrifizierung ist im Bau und auch die Planung für die Gleisanlagen im Güterverkehrszentrum laufen", sagt Andreas Bullwinkel, Geschäftsführer der JadeWeser-Port-Marketing GmbH. Fortschritte, die aber auch notwendig sind. "Wilhelmshaven hat beim Containeraufkommen noch nicht die kritische Menge erreicht", sagt Lemper. Das Netzwerk von Feeder- und Bahnverkehren sei noch nicht dicht genug. "Ab etwa eine Million TEU Umschlag dürften sich selbstbeschleunigende Effekte ergeben", so Lempers Einschätzung. Bis dahin ist es für den JWP noch ein weiter Weg. Die Chancen des Lkw im Hinterland Lemper geht fest davon aus, dass der Trend im Hinterlandverkehr der Seehäfen anhält, mehr Güter von der Straße auf das Binnenschiff und die Bahn zu verlagern (siehe auch S. 26). "Wenn die Politik den Lkw-Verkehr mit CO2-Preisen weiter überproportional verteuert, ist das ein weiterer Anreiz, auf andere Verkehrsträger auszuweichen", sagt Lemper. Im engeren regionalen Einzugsgebiet der Häfen gäbe es jedoch nur wenige Chancen, vom Lkw wegzukommen. Bei der Schiene kommt hinzu, dass die Kapazitäten nicht unbegrenzt verfügbar sind. Als Beispiel nennt er die Strecke zwischen Bremerhaven und Bremen. "Da müssen sich die Containerzüge die Trasse nicht nur mit den Personenzügen teilen, sondern auch mit den vielen Autozügen." Doch auch die Häfen müssen permanent an einer leistungsfähigen Infrastruktur arbeiten, um attraktiv zu bleiben. So hat der Senat Bremen erst letzte Woche beschlossen, ein Konzept zur Ertüchtigung der Stromkaje zu erstellen. Dazu sagte die Hafensenatorin Claudia Schilling: "Für die Abfertigung der Schiffe mit bis zu 24.000 TEU bedarf es auch neuer Containerbrücken, die größer, höher und leistungsfähiger sind. Erste statische Untersuchungen haben jedoch ergeben, dass die neuen Brücken auf der vorhandenen Kaje nicht beziehungsweise nur mit erheblichen Einschränkungen eingesetzt werden können." Der Port of Rotterdam sieht sich selbst in einer guten Position mit modernen Terminals, keinen Zufahrtsbeschränkungen und "exzellenten" Verbindungen in das Hinterland", wie es Leon Willems formuliert, der Sprecher des Hafens Rotterdam. Er geht davon aus, dass das Wachstum in Rotterdam sich zukünftig so fortsetzen wird wie in der Vergangenheit. Im Hinterland sieht er vor allem ein Wachstumspotenzial in Süd- und Südwestdeutschland. "Deshalb haben wir in der Vergangenheit die Zahl der Bahnverbindungen in diese Region verstärkt", so Willems gegenüber der VerkehrsRundschau. Auch der Nachbar Antwerpen bereitet sich auf weiteres Wachstum vor. Bei Containern und Bulk-Flüssigkeiten erwartet man im Hafen an der Schelde eine besonders hohe Zunahme. Im Hinterlandverkehr haben die Belgier fast den gesamten europäischen Kontinent im Auge. "Bei der Bahn sehen wir das größte Wachstumspotenzial in Deutschland entlang des Rheins, in Frankreich, Österreich und den CEE-Märkten (Mittel- und Osteuropa)", sagt Lennart Verstappen von der Port Authority Antwerpen. Für die Binnenschifffahrt nennt er Deutschland, Nord-Frankreich, Niederlande und Belgien als wichtige Märkte. Mehr zum Thema finden Sie unter #Seehäfen www.verkehrsrundschau-plus.de/hashtag In Kürze Bremerhaven, Hamburg, Antwerpen und Rotterdam sind die großen Seehäfen an der Nordseeküste. Wilhelmshaven versucht aufzuholen. Lesen Sie, wo die Stärken und Schwächen der jeweiligen Häfen liegen und warum trotz Corona der Optimismus ungebrochen ist. 23.964 TEU: Das ist das Fassungsvermögen des derzeit größten Containerschiffs der Welt. Deren Besitzer, die Reederei HMM, will insgesamt zwölf dieser Containerriesen in ihre Flotte aufnehmen.

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