Interview: Welches Szenario erwarten Sie im UK-Verkehr?

Viele Briten wollten den Brexit. Seit dem 1. Januar 2021 ist das Vereinigte Königreich nicht mehr Teil der EU. Sind die Briten jetzt glücklich? Nur 37 Prozent der wahlberechtigten Briten haben beim Referendum 2016 für den Brexit gestimmt. In den letzten drei Jahren gab es 88 britische Meinungsumfragen zum Brexit. In 76 gab es eine Mehrheit für den Verbleib in der EU, in zehn hielten sich die Befürworter und Gegner stimmenmäßig die Waage, und nur in zwei Meinungsumfragen sprach sie Mehrheit für den Brexit aus. Mit anderen Worten: Die Mehrheit der Briten will in der EU bleiben. Fast zwei Drittel der Schotten haben für den Verbleib gestimmt und fühlen sich damit von den Engländern gegen ihren Willen aus der EU gezerrt. Doch nun ist es zu spät. Vor allem britische Unternehmen sind aktuell vom Brexit frustriert. Warum eigentlich? Die meisten von ihnen haben den Brexit inzwischen akzeptiert, auch wenn viele anfangs dagegen waren. In Großbritannien gibt es rund 150.000 Unternehmen, die mit der EU und ausschließlich mit der EU gehandelt haben. Das heißt, für diese Unternehmen sind die neuen Zollregeln völliges Neuland. Mitte 2020 startete die Regierung eine Informationskampagne. Letztlich haben aber viele Unternehmen den Aufwand unterschätzt und sind nicht vorbereitet. Sie spüren erst jetzt die wirklichen Folgen des Brexit. Ich befürchte, dass viele von ihnen nun den zusätzlichen Aufwand scheuen und sich künftig auf den britischen Markt konzentrieren und aus dem EU-Geschäft zurückziehen werden. Der Brexit war ja vor allem von dem Wunsch getrieben, die Souveränität zurückzugewinnen und die Zuwanderung zu kontrollieren; fast alle Modellierungsstudien deuten darauf hin, dass die Auswirkungen auf die britische Wirtschaft negativ sein werden. Sie haben bei der digitalen Podiumsdiskussion zum Thema Brexit der Logistics Aliance Germany (LAG) gesagt, dass in Großbritannien 50.000 Zollagenten fehlen. Und nicht einmal 25 Prozent von diesen seien mittlerweile eingestellt. Von wem haben Sie diese Zahlenm, und bis wann dürften alle Zollagenten eingestellt sein? Die britische Regierung hat selbst zugegeben, dass 50.000 Zollagenten fehlen werden. In einer Parlamentssitzung am 8. Dezember 2020 wollte aber selbst Premierminister Boris Johnson nicht sagen, wie viele von ihnen schon eingestellt subd. Die Zahl von 25 Prozent kursierten dann in diversen Presseberichten, sind aber offiziell nicht bestätigt. Viele Unternehmen sind frustriert, weil die offizielle Website der Regierung ihnen rät, sich an Zollagenten zu wenden, die aber Mangelware sind. Und diese Zollagenten selbst sind nicht immer mit den neuen Zollregeln und IT-Systemen vertraut, weil sie erst kürzlich eingeführt wurden. Es ist im Grunde ein Durcheinander. Abgesehen davon sollen die Garantien der Zollagenten für T1-Dokumente schon fast erschöpft sein. Und solange diese Garantien für T1-Dokumente fehlen, können Waren aus der EU auch nicht in Großbritannien ausgeliefert werden. Wie soll das in Großbritannien gelöst werden? Das ist in der Tat ein großes Problem. Irgendwie muss das Angebot an diesen Transitdokumenten mit den dazugehörigen finanziellen Garantien erhöht werden. Tatsache ist, dass alles, was dazu beiträgt, den Warenaustausch zwischen der EU und Großbritannien zu erschweren, Unternehmen auf beiden Seiten des Ärmelkanals dazu veranlasst, ihre Lieferketten zu überdenken und sich zu fragen, ob sie tatsächlich aus Großbritannien Waren beziehen wollen oder umgekehrt. Unterm Strich, so fürchte ich, wird der Handel zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich deutlich zurückgehen. Und es wird für britische Unternehmen noch schwieriger werden, ihre Produkte in der EU zu verkaufen - es sei denn, sie gründen dort eine Tochtergesellschaft, wie es einige Regierungsbeamte sogar raten. Welches Szenario erwarten Sie im UK-Warenverkehr also mittelfristig? Es ist derzeit fast unmöglich vorherzusagen, um wie viel Prozent der Handel abnehmen wird. Ein großes Problem wird sein, dass die EU-Spediteure und ihre Lkw-Fahrer zögern werden, nach Großbritannien zu kommen, weil sie befürchten, dass ihr Betrieb durch Zollprobleme, Hafenverzögerungen und Staus gestört wird. Immerhin sind die EU-Spediteure für 80 bis 90 Prozent der Straßengütertransporte zwischen UK und der EU auf den Routen über den Ärmelkanal verantwortlich. Gehen diese Transportkapazitäten zurück, scheint es unvermeidlich, dass die Frachtraten steigen werden. Tatsächlich berichtet Transporeon, dass die Frachtraten zwischen Großbritannien und Frankreich bereits 50 Prozent höher sind als im dritten Quartal 2020. Die Lieferungen werden also langsamer und unzuverlässiger, während die Transportkosten steigen. Keine erfreulichen Aussichten für Unternehmen mit UK-EU-Lieferketten Es gibt also im Moment viele Probleme wegen des Brexit. Sind das nur die ersten Kinderkrankheiten, oder werden die Probleme länger andauern? Eine Reihe von Problemen wird sich mit der Zeit von selbst erledigen. Zum Beispiel werden die Unternehmen bald lernen, wie sie die neuen Zollanforderungen erfüllen können. Es wird viel mehr Zollagenten geben, und das Angebot an Transitdokumenten und finanziellen Garantien wird stark erhöht werden. Darüber hinaus gibt es jedoch Probleme, die struktureller Natur sind und wahrscheinlich länger andauern werden. Wenn ein einzelnes Land wie Großbritannien die größte Freihandelszone der Welt verlässt, kann es nicht davon ausgehen, dass es so weitergeht wie bisher. Unser britischer Markt wird dadurch natürlich unattraktiver werden, zum Beispiel durch Staus an den Grenzen und den zusätzlichen bürokratischen Aufwand. Und natürlich werden die Unternehmen - auf beiden Seiten des Ärmelkanals - ihre Lieferketten überdenken und sich fragen, ob sie weiterhin aus Großbritannien oder der EU beziehen wollen. Kurzum, ich befürchte, dass der Handel zwischen der EU und Großbritannien deutlich zurückgehen wird und das Handelsungleichgewicht zwischen Großbritannien und der EU langfristig wahrscheinlich zunehmen wird. Was sind derzeit die drei größten logistischen Herausforderungen, die durch den Brexit auf das Vereinigte Königreich zukommen? Die erste ist die Herausforderung, das Niveau der Straßenverkehrskapazitäten und der Servicequalität zwischen der EU und Großbritannien zu Frachtraten aufrechtzuerhalten, die sich Unternehmen auf beiden Seiten leisten können. Ich befürchte, dass durch die neuen Reibungsverluste an der Grenze die Kapazitäten sinken, die Verspätungen länger werden und die Kosten für den Gütertransport steigen werden. Die Lebensmittelversorgungskette zwischen der EU und Großbritannien stellt ebenfalls eine große Herausforderung dar. UK bezieht etwa 30 Prozent seiner Lebensmittel aus der EU, ein Großteil davon sind Frischwaren, die schnell und zuverlässig geliefert werden müssen. Wir sind also sehr abhängig von Lebensmittelimporten aus der EU - besonders in den Wintermonaten. Einige Lebensmittelströme in die entgegengesetzte Richtung, vor allem die Exporte von schottischen Meeresfrüchten, sind bereits stark gestört worden. Besonders stark trifft es im Moment die Automobilindustrie... Die Automobilindustrie trifft es in der Tat stark, da Autowerke und Zulieferer in Großbritannien und der EU durch Just-in-Time- und Just-in-Sequence-Logistik eng miteinander verbunden sind. Das Ausmaß der Störungen hält sich hier noch in Grenzen, da die Verzögerungen an den Grenzen noch relativ gering sind und viele Unternehmen vor dem Ende der Brexit-Übergangszeit Lagerbestände aufgebaut haben. Aber die Situation kann sich verschlechtern. Es hat bereits einige Produktionsausfälle gegeben, zum Beispiel bei Nissan und Honda. Diese wurden hauptsächlich auf die Corona-Pandemie zurückgeführt, aber es ist wahrscheinlich, dass die Auswirkungen des Brexit zunehmend spürbar werden, insbesondere wenn das Vereinigte Königreich in den nächsten Monaten die Zollkontrollen für EU-Importe einführt. Das Interview führte Eva Hassa, Redakteurin der VerkehrsRundschau

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