Deutsche Wirtschaft 2035: Szenarien für die Zukunft

Deutschland steht 2025 vor einer Bewährungsprobe: Die Konjunktur schwächelt, zugleich treten strukturelle Probleme deutlich zutage. Die Gemeinschaftsdiagnose beziffert das Potenzialwachstum bis 2029 auf lediglich 0,9 Prozent pro Jahr. Gleichzeitig fragmentiert der Welthandel, Lieferketten werden komplexer, und die Klimapolitik verschiebt Standortvorteile. Hinzu kommt der demografische Wandel: Ohne Produktivitätssprünge, etwa durch künstliche Intelligenz (KI), drohen Engpässe. Die nächsten Jahre entscheiden, ob Deutschland die strukturellen Herausforderungen als Chance für eine Neupositionierung nutzt. Fünf Handlungsfelder sind dabei zentral. Neue Exportmärkte erschließen Deutschland ist Exportnation, doch das Erfolgsmodell gerät ins Wanken. Die USA sind durch Zölle und erratische Politik kein verlässlicher Partner mehr, China entwickelt sich zunehmend zum Rivalen. Beide Märkte stehen zusammen für rund ein Drittel des EU-Handels. Zugleich ist Europa bei kritischen Rohstoffen und Vorprodukten stark abhängig, etwa von China bei seltenen Erden (rund 97 Prozent) oder von Ostasien bei Halbleitern. Die Corona-Pandemie und der Ukrainekrieg haben die Fragilität globaler Lieferketten offengelegt. Gleichzeitig halten andere große Volkswirtschaften und Handelsblöcke am Freihandel fest. Für Deutschland eröffnet dies Chancen, mittels der Europäischen Union neue Exportmärkte zu erschließen. Wachstumspotenziale liegen in Indien, Lateinamerika und Afrika, aber auch in Japan und Südkorea. Beide Länder weisen eine ähnliche Wirtschaftsstruktur wie Deutschland auf, orientierten sich lange in Richtung USA und haben ihre Handelsintensität mit Europa bisher kaum ausgeschöpft. Außerdem könnte das EU-Mercosur-Abkommen allein das Handelsvolumen mit Südamerika um 30 Prozent steigern. Gleichzeitig verlagert sich ein Teil des Handels nach Europa: Durch den Aufbau eigener oder zusätzlicher Kapazitäten bei Energie, Chips und anderen Schlüsseltechnologien will die EU Abhängigkeiten reduzieren und Lieferketten wieder widerstandsfähiger machen. Handelspolitik diversifizieren Die Bundesregierung sollte daher aktiv an der Neuausrichtung der europäischen Handelspolitik mitwirken. Wichtig ist, dass man die Freihandelsabkommen mit dynamischen Partnerregionen zügig abschließt. Mit Indien, den ASEAN-Staaten und Mercosur liegen die Verträge seit Jahren vor - ihre Ratifizierung wäre ein Signal für eine diversifizierte, zukunftsfähige Handelsstrategie. Denn es gilt, eine Handelspolitik zu verfolgen, die Abhängigkeiten reduziert, etwa durch strategische Rohstoffallianzen. Die Unternehmen stehen allerdings ebenfalls in der Verantwortung, ihre Lieferketten breiter aufzustellen. Viele Unternehmen verfolgen inzwischen "China+1"-Strategien. Sprich: Sie behalten ihre Standorte in China bei, ergänzen diese jedoch durch Produktions- oder Beschaffungszentren in Indien, Südostasien oder Lateinamerika. So reduzieren sie Risiken, erschließen neue Märkte und sichern Vorteile durch die Festigung von Partnerschaften und dem frühzeitigen Managen von Risiken. Deutschland ist wirtschaftlich erfolgreich, weil es Teil des europäischen Binnenmarkts ist. 53 Prozent der deutschen Exporte gehen in die EU, nur weitere neun Prozent in die USA und acht Prozent nach China. Doch der Binnenmarkt ist unvollständig. Dienstleistungen, Energie und Kapitalverkehr sind durch regulatorische Barrieren eingeschränkt, die nach IWF-Schätzungen Zöllen von bis zu 44 Prozent bei Gütern und 110 Prozent im Dienstleistungssektor entsprechen. Gleichzeitig verliert Europa im globalen Wettbewerb an Dynamik: In den vergangenen 20 Jahren wuchs das BIP der USA um 2,2 Prozent jährlich, das Chinas sogar um acht Prozent, während die EU im Schnitt lediglich 1,4 Prozent erreichte. Deutschlands eigene Wachstumsraten liegen darunter. Professor Achim Wambach ist seit 2016 Präsident des ZEW - Leibniz-Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Mannheim. Er gehört dem Deutschen Ethikrat sowie dem Wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie an. Wambach promovierte in Physik an der Universität Oxford, absolvierte einen Master in Economics an der London School of Economics und habilitierte sich in Volkswirtschaftslehre an der LMU München. Er war Professor für VWL an der Universität Erlangen-Nürnberg und an der Universität zu Köln, wo er das Institut für Wirtschaftspolitik leitete. Den Binnenmarkt vertiefen Bis 2035 hängt die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands davon ab, ob die EU den Binnenmarkt weiter voranbringt. Die Effizienzgewinne liegen im dreistelligen Milliardenbereich. Heute bremsen jedoch zahlreiche Hindernisse, die die EU-Kommission in den "Terrible Ten" zusammenfasst: zu komplexe Vorschriften, langwierige Standardisierungsprozesse, mangelnde Anerkennung beruflicher Qualifikationen, fragmentierte Regeln bei Dienstleistungen, Verpackung und Produktkennzeichnung oder auch territoriale Lieferbeschränkungen. Werden diese Barrieren abgebaut, entsteht ein Binnenmarkt, in dem 450 Millionen Konsumenten und 26 Millionen Unternehmen einen starken Heimatmarkt bilden, der Innovationen und Investitionen anzieht. Deutschland sollte die Rolle des aktiven Gestalters in Europa übernehmen. Statt in Brüssel zu blockieren oder sich zu enthalten, gilt es, Allianzen zu schmieden und Integration voranzutreiben. Priorität haben der Abbau regulatorischer Barrieren im Dienstleistungssektor, um Wachstumspotenziale zu heben, und die Kapitalmarktunion, um Investitionen in Innovation und Transformation zu erleichtern. Deutsche Unternehmen sollten ihre europäische Wertschöpfungskette vertiefen. Kooperationen mit Partnern in Nachbarländern ermöglichen nicht nur den Zugang zu einem großen Heimatmarkt, sondern auch die gemeinsame Entwicklung von Technologien. Industriestandort stärken Die Industrie erwirtschaftet rund ein Fünftel der deutschen Bruttowertschöpfung, doch der Druck wächst: Hohe Energiepreise, steigende Lohnkosten und eine sinkende preisliche Wettbewerbsfähigkeit führen zu Marktanteilsverlusten, besonders in Asien. Viele Firmen verlagern daher energieintensive Produktionsstufen ins Ausland. Besonders deutlich zeigt sich die Entwicklung bei den Direktinvestitionen: Schon im Jahr 2022 flossen netto rund 125 Milliarden Euro ab, 2023 nochmals 94 Milliarden - die drittgrößte Summe seit 1971. Gleichzeitig sanken die Zuflüsse neuer Investitionen deutlich - ein strukturelles Signal für die sinkende Standortattraktivität. Deutschland wird auch 2035 Industriestandort sein, aber mit verändertem Profil. Energieintensive Branchen wie Stahl und Grundchemie werden weiter an Gewicht verlieren oder Teile der Produktion ins Ausland verlagern. Schwer zu halten sind auch industrielle Segmente mit geringer Wertschöpfung. Wachstumspotenzial liegt indes in der stärkeren Verzahnung von Industrie und Dienstleistungen ("Servitisierung"), etwa bei Software für Maschinen, Datenanalysen und Wartung. Schon heute stammen rund ein Drittel der Vorleistungen der deutschen Industrie aus dem Dienstleistungssektor, Tendenz steigend durch die Individualisierung von Produkten. Um Deutschland als Industriestandort zu sichern, braucht es eine Änderung der Politik. Dabei ist insbesondere ein investitionsfreundlicheres Klima notwendig. Die anhaltend hohen Abflüsse von Direktinvestitionen zeigen, dass Unternehmen Zweifel am Standort haben. Beschleunigte Planungs- und Genehmigungsverfahren, weniger Bürokratie und klare industriepolitische Leitplanken würden Vertrauen zurückgewinnen und Investitionen im Land halten. Auch die Unternehmen selbst müssen ihren Beitrag leisten. Digitalisierung, Automatisierung und datengetriebene Geschäftsmodelle bieten die Chance, auch in einem Hochlohnland wettbewerbsfähig zu bleiben. Klima-Transformationspolitik Die Transformation hin zur Klimaneutralität ist längst zu einem zentralen Wettbewerbsfaktor geworden. Mit dem europäischen Emissionshandel (EU-ETS I) für Industrie und Stromerzeugung und dem EU-ETS II ab 2027 für Verkehr und Gebäude wird künftig für rund 90 Prozent der Emissionen ein CO2-Preis auferlegt. Für Unternehmen heißt das: Energie und Emissionen bleiben teuer, während Wettbewerber außerhalb Europas oft günstigere Bedingungen haben. Der geplante Grenzausgleich (CBAM) kann diese Nachteile nur teilweise ausgleichen. Schon heute verliert Deutschland an preislicher Wettbewerbsfähigkeit, auch weil es strukturell kein Niedrigenergiepreisland ist. Auf der anderen Seite ist der Emissionshandel das effizienteste Instrument zur Erreichung der Klimaziele. Emissionen werden dort eingespart, wo sie sich lohnen, und Unternehmen haben einen planbaren Anreiz, in grüne Technologien zu investieren. 2035 wird sich die Transformationspolitik als entscheidender Standortfaktor etabliert haben. Günstige Energiepreise werden für Deutschland auf absehbare Zeit kein Vorteil sein - Sonne und Wind sind hier weniger konstant als in anderen Weltregionen. Die Politik sollte die Klimapolitik konsequent marktbasiert und europäisch gestalten. Der Emissionshandel ist das zentrale Instrument; zusätzliche nationale Maßnahmen, die das Preissystem verwässern, sind kontraproduktiv. Quoten für grünen Stahl Zugleich sollte der "Carbon Border Adjustment Mechanism" (CBAM), ein CO2-Grenzausgleichssystem der EU, zu einem wirksameren Schutzmechanismus ausgebaut werden, um Wettbewerbs- nachteile und "Carbon Leakage" zu verhindern, also die Verlagerung von Produktion und damit von Emissionen in Länder mit niedrigeren Klimastandards. Wichtiger als Subventionen für einzelne Produktionslinien ist die Schaffung von Leitmärkten, in denen klimafreundliche Produkte nachgefragt werden, etwa durch Quoten für grünen Stahl oder Zement. Fachkräfte sichern, KI integrieren Der demografische Wandel lässt die Erwerbsbevölkerung schrumpfen, während der Fachkräftebedarf in Industrie, Pflege und IT steigt. Schon heute fehlen über 380.000 Arbeitskräfte. Gleichzeitig schreitet KI rasant voran und verändert die Arbeitswelt. Eine Studie beziffert den ersten Effekt eines KI-induzierten Rückgangs von Berufseinsteigerstellen auf 13 Prozent. Langfristig wird KI in fast allen Branchen zum Einsatz kommen: Sie übernimmt Routinen, analysiert Daten und steigert die Produktivität von Logistik bis Medizintechnik. Doch sie kann den Mangel nicht komplett ausgleichen: Ingenieure, Pflegekräfte, Handwerker, spezialisierte Facharbeiter bleiben unverzichtbar. Vielmehr entscheidet die Kombination von KI und qualifizierten Arbeitskräften über die Wettbewerbsfähigkeit. Firmen, die beide Ressourcen klug verzahnen, können Produktivitätssprünge erzielen. Die Politik sollte KI auch als arbeitsmarktpolitische Aufgabe verstehen. Erforderlich sind ein breiter Ausbau von Aus- und Weiterbildung, eine frühzeitige Vermittlung digitaler Kompetenzen und lebenslanges Lernen. Gleichzeitig werden sich die Lücken auf dem Arbeitsmarkt 2035 ohne qualifizierte Zuwanderung nicht schließen lassen. Entscheidend ist, dass Deutschland ein attraktiver Standort für internationale Talente wird, etwa durch schnellere Visa-Verfahren und eine transparente Anerkennung von Abschlüssen. Zudem braucht es eine klare Umsetzung des EU AI Act, um Transparenz, Datenschutz und ethische Standards bei der Nutzung von KI zu sichern und so Vertrauen in den Technologieeinsatz zu schaffen. Weichen stellen statt abwarten Deutschland wird 2035 anders aussehen als heute, aber schon heute werden dafür die Weichen gestellt. In den nächsten zehn Jahren verändern sich die Spielregeln des deutschen Wirtschaftsmodells: Handelsströme verlagern sich, die europäische Integration entscheidet über Marktgröße und Stärke, die Industrie wandelt ihr Profil, Klimapolitik prägt die Wettbewerbsbedingungen und KI transformiert den Arbeitsmarkt. Damit daraus Wohlstand entsteht, sollte man die aktuelle Krise nutzen, um Deutschland neu zu positionieren.

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