Schäden in Millionenhöhe?

Schäden in Millionenhöhe?Ein flächendeckender Streik bei der Bahn könnte täglich Kosten in Höhe von dreistelligen Millionenbeträgen verursachen, vermelden deutsche Forschungsinstitute. Eine Umfrage der VerkehrsRundschau zeigt: Diese Zahlen sind mit großer Vorsicht zu genießen.Was den Güterverkehrsverbänden trotz steter Bemühungen über Jahre hinweg nicht oder kaum gelungen ist, hat eine kleine Gewerkschaft in wenigen Wochen geschafft. Die Streik-androhung der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) bei Railion und seine Folgen für die Wirtschaft waren über Tage hinweg das Topthema im Fernsehen und bei Tageszeitungen. Selten zuvor wurde der Bevölkerung deutlich gemacht, welche hohe Bedeutung der Schienengüterverkehr für Deutschland hat. Die Streikandrohung hat außerdem dazu geführt, dass sich zahlreiche Institutionen und Personen zu Wort gemeldet haben. „Die Schiene ist die logistische Basis vieler Wertschöpfungsketten und für die deutsche Wirtschaft unverzichtbar“, sagte beispielsweise der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie Jürgen R. Thumann. In die gleiche Kerbe schlug der Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik (BME). Deren Hauptgeschäftsführer Holger Hildebrandt geht davon aus, dass die Mehrheit der Unternehmen einen Streik von einem Tag bis zu zwei Tagen überbrücken können. „Danach wird sich der Versorgungsengpass auf die Produktivität auswirken“, sagte Hildebrandt.Konkrete Zahlen, welche Folgen solche Versorgungsengpässe haben könnten, lieferten das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und das Institut der Deutschen Wirtschaft (IW). Letzteres bezifferte den Schaden eines flächendeckenden Streiks der GDL-Lokführer im Schienengüterverkehr auf täglich 120 Millionen Euro. Andere Verkehrsmittel könnten dem IW zufolge Güter im Wert von zehn Millionen Euro pro Tag zusätzlich transportieren. Das IW hat diese Zahlen anhand der Bruttowertschöpfung des Schienengüterverkehrs berechnet, die 240 Millionen Euro pro Tag beträgt. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass der Schaden jedoch nur halb so hoch sein wird, weil beamtete Lokführer oder Lokführer anderer Gewerkschaften als Streikbrecher zum Einsatz kommen.Versorgungssicherheit gefährdet?Auch das DIW hat sich zu möglichen Streikkosten gemeldet. In ersten Berichten war bei flächendeckenden Streiks von Schäden in Höhe von zwei- bis dreistelligen Millionenbeträgen pro Tag die Rede.Angefacht von solchen Zahlen wurden dann sogar Zweifel laut, inwiefern die Versorgungssicherheit der Bevölkerung gefährdet sein könnte. Doch hier gab der Bundesverband Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL) Entwarnung: „Der LKW-Anteil im Bereich der Handelslogistik ist so hoch, dass die Bundesbürger sich nicht wegen Lokführerstreiks leeren Regalen gegenübersehen werden“, teilte der Verband mit. Die VerkehrsRundschau hat sich in Branchen umgehört, die der Bahn die meisten Güter anvertrauen (s. Kasten rechts) beziehungsweise bei den Seehäfen (s. Seite 24). Das Resultat: Viele Betroffene sprechen zwar von gravierenden Folgen, vor allem organisatorischer Art. Aber von Produktionsstillständen bereits nach zwei Tagen war nur in Ausnahmefällen die Rede. Railion hatte zudem bereits mit den wichtigsten Kunden Vorsorge getroffen. So wurden täglich 960 Güterfernzüge als versorgungsrelevant eingestuft, deren Einsatz gewährleistet werden sollte. Die VerkehrsRundschau hat das IW und DIW mit diesen Fakten konfrontiert. Ergebnis: Prof. Claudia Kemfert vom DIW sprach gegenüber der VerkehrsRundschau nur noch von Schäden in Höhe von bis zu 15 Millionen Euro täglich. Auch Hagen Lesch vom IW ruderte zurück: 110 Millionen Euro seien erst dann zu veranschlagen, wenn nach einem mehrere Tage andauernden Streik die komplette Versorgung der Werke lahmgelegt würde. ❙❚■ Michael CordesDie Folgen eines Streiks für die HäfenIm wichtigsten deutschen Seehafen Hamburg beträgt der Anteil der Schiene am Modal Split rund 30 Prozent. 200 Güterzüge verkehren täglich im Hamburger Hafen, davon sind 70 Prozent Railion zuzuordnen. Die Hamburger Port Authority, die bereits eine Streik-Task-Force zusammen mit den Eisenbahnverkehrsunternemmen und den Terminalbetreibern vereinbart hat, geht davon aus, dass der Flaschenhals Hafen mit besonderer Priorität bei der Bahn behandelt wird. Aus gutem Grund: Würde es zu einem Zusammenbruch des Schienengüterverkehrs kommen, wäre nach wenigen Tagen auch der letzte Stellplatz mit den ankommenden Containern belegt. Zeitlich begrenzte Aktionen von bis zu vier Stunden könnte die Hafenbahn allerdings durch Staukapazitäten im Gleisnetz abpuffern.Über die Zwillingshäfen Bremen und Bremerhaven wurden 2006 knapp 65 Millionen Tonnen Güter umgeschlagen. Die USA, Russland und China sind die wichtigsten Destinationen. 13 Millionen Tonnen wurden mit der Bahn transportiert, davon 7,7 Millionen Tonnen über Bremerhaven. Bremen gilt als einer der wichtigsten Umschlagplätze für die Automobilindustrie, rund 2 Millionen Fahrzeuge wurden 2006 über Bremen verladen, mehrheitlich als Exportware. Der Anteil von Railion beim Schienengüterverkehr liegt bei weit über 50 Prozent. diwiHäfen sind der Flaschenhals für Millionen Tonnen SchiffsladungHamburg und die Bremer Häfen wären von einem Streik besonders betroffen. Über die Schiene wird ein Drittel der Gütermengen abtransportiert. Lokführer der streikbereiten Gewerkschaft GDL: Verantwortlich für Millionenschäden? Umfrage bei den BranchenvertreternWie abhängig ist die Wirtschaft vom Schienengüterverkehr?Die Umfrage der VerkehrsRundschau zeigt: Streiken die GDL-Lokführer, würde dies einigen Unternehmen wehtun. Viele wären aber auf Störungen vorbereitet.Die Automobilindustrie transportiert viele ihrer Produkte auf der Schiene. Hier könnten bei einem Streik Engpässe drohen – zumindest nach den Werksferien, die bei VW, BMW, Porsche oder Opel derzeit noch andauern. Deshalb arbeiten alle Autohersteller an Notfallplänen. Ford etwa setzt am Standort Köln verstärkt auf seine Autoschiffe auf dem Rhein – auch sei bereits ein Teil der Zulieferung von der Bahn auf LKW umgestellt worden. Die Alternative, mehr Waren zwischenzulagern, ist mangels Lagerfläche nicht immer gegeben. Daher könnten besonders von der Schiene abhängige Werke schnell in Not kommen. Ein Beispiel dafür ist das Porsche-Werk Leipzig, in dem der Cayenne hergestellt wird. „In Leipzig sind wir komplett von der Bahn abhängig“, sagt Porsche-Unternehmenssprecher Albrecht Bamler gegenüber der VerkehrsRundschau. Bamler weiter: „Die gesamte Zulieferung der Karosserie erfolgt aus Bratislava und ist nicht verlagerbar.“ Bereits nach einigen Tagen müsste die Produktion gestoppt werden. Von einem Bahnstreik nicht betroffen wären Transportdienstleister der Autoindustrie wie Kiessling und Rudolph. Beide äußerten gegenüber der VR: „Wir befürchten keine negativen Auswirkungen eines Streiks.“ tr Die Autoindustrie arbeitet an Notfallplänen – das Problem: die fehlende LagerkapazitätBei den Chemieproduzenten spielt die Bahn traditionell eine wichtige Rolle. „Rechnet man die Beförderung per Pipeline heraus, liegt der Anteil der Schiene bei ungefähr 20 Prozent“, erklärt Klaus Becker, Vorsitzender des Arbeitskreises Bahntransport beim Verband der Chemischen Industrie VCI. Vor allem die Versorgung der Produktion mit Rohstoffen hänge überwiegend von Bahnverkehren ab, und auch im Export laufe viel per Container auf der Schiene. „Hier sind negative Auswirkungen in beachtlichem Umfang zu erwarten“, fürchtet Becker. Als Alternative sieht er private Eisenbahnverkehrsunternehmen, die zumindest einen Teil der Frachtkapazitäten übernehmen könnten. „So manche Unternehmen haben ihre Verkehre schon umgestellt oder zumindest bei den Privaten angefragt“, weiß der VCI-Experte.Die Händler sehen einem Streik gelassen entgegen. „Das ist für uns bisher kein Thema gewesen“, meint Peter Steinbach, Geschäftsführer des Verbands Chemiehandel in Köln. Über die Jahre seien viele Gleisanschlüsse in der Branche abgebaut worden, zudem spiele die Schiene heute lediglich auf der Zulieferseite noch eine nennenswerte Rolle. „Sollte es tatsächlich zu Engpässen bei der Auslieferung kommen“, so sein Fazit, „wird der Kunde im Allgemeinen Verständnis haben.“ ghDie Chemieindustrie setzt auf private EisenbahnbetreiberIn der Stahlindustrie beobachtet man den Streit zwischen GDL und der Bahn mit großer Sorge. Denn laut Dieter Ameling, Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl, wickelt die Stahlindustrie 53 Prozent des Güterverkehrs mit der Bahn ab, 26 Prozent per Binnenschiff und 21 Prozent per LKW. Streiks bis zu drei Stunden hätten jedoch keine großen Auswirkungen. Letztlich sind die Folgen jedoch je nach Werk unterschiedlich. „Die Bahn ist als Rohstoffzulieferer für uns unverzichtbar“, sagt Bernd Gerstorff, Sprecher bei Salzgitter Flachstahl. 90 Prozent der Rohstoffe werden per Bahn aus dem Hafen Hamburg angeliefert. Im Warenausgang sind es 65 Prozent. Gravierende Folgen hätte ein Streik jedoch erst dann, wenn er länger dauern würde. Denn viele Stahlproduzenten verfügen über Lagervorräte, mit denen sie mehr als eine Woche auskommen.Bei ThyssenKrupp werden 40 Prozent aller Verkehre mit der Bahn abgewickelt. Laut Bert Kloppert, Leiter Verkehrswirtschaft, geht man bei TKS nicht von einem längerfristigen Streik aus. In Abstimmung mit Railion wurden die wichtigsten Verkehre im Rahmen eines Notfallkonzepts priorisiert. Inwieweit Rechtsansprüche aus verspäteten oder nicht transportierten Zügen gegenüber Railion geltend gemacht werden kann, wird zurzeit geprüft. cdStahlunternehmen prüfen rechtliche Schritte gegen Deutsche BahnUnterschiedlich reagieren die großen Mineralölhersteller auf die Streiks bei der Bahn. So sieht Esso Deutschland einem möglichen Streik gelassen entgegen. Zwar wickelt das Unternehmen immerhin fast 30 Prozent seiner Transporte per Bahn ab. Dennoch befürchtet man keine Kapazitätsengpässe. Die Läger wären gut gefüllt, und sollten die Vorräte zur Neige gehen, sei eine Versorgung über Austauschläger möglich, so eine Sprecherin des Konzerns. Auch bei BP/Aral zeigt man sich unbeeindruckt. Und das, obwohl 2006 immerhin 5,5 Millionen Tonnen von insgesamt 12,5 Millionen Tonnen per Bahn transportiert wurden. Allerdings: BP lässt von den 5,5 Millionen Tonnen nur 40 Prozent von Railion fahren. Den Rest wickeln private Eisenbahnen ab.Bei Shell hingegen haben die Verantwortlichen erleichtert reagiert, als das Arbeitsgericht Nürnberg Ende letzter Woche den Streik untersagte. Eine Shell-Sprecherin gesteht, dass ein längerer Streik dem Unternehmen schon wehtun würde. Dabei seien die Auswirkungen je nach Raffineriestandort unterschiedlich. So beträgt der Bahnanteil in Hamburg 20 Prozent, in Köln nur drei Prozent. Den LKW sieht die Sprecherin nur bedingt als eine Alternative. „Die Nachfrage ist groß. Da gibt es derzeit kaum Frachtraum.“ cdMineralölfirmen reagieren unterschiedlich auf die Streiksituation

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