Stuttgart. Entweder ein oberirdischer Kopfbahnhof oder ein unterirdischer Tiefbahnhof - diese Alternative hat den Streit um Stuttgart 21 in den vergangenen Jahren beherrscht. Ein Mittelweg schien undenkbar. Nur ironisch war von einem „unterirdischen Kopfbahnhof" die Rede. Plötzlich ist alles anders: Schlichter Heiner Geißler verwandelt das „Entweder-Oder" in ein „Sowohl-als-Auch" und überrascht damit Freund und Feind. Sein Kompromiss hat aber nur wenig Chancen, die festgefahrenen Fronten aufzuweichen. Eher im Gegenteil.
Die Anhänger von S21 sagen: Der Vorschlag kommt 15 Jahre zu spät. Bundesregierung, Bahn, Stadt und Region Stuttgart, CDU, FDP und die Spitze der Südwest-SPD - sie alle wollen nicht wieder von vorne beginnen, sondern das Projekt endlich abschließen. Nicht nur Stuttgarts Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU) meint: Geißlers Kombilösung - der Kopfbahnhof oben für den Nahverkehr und ein neuer Durchgangsbahnhof unten für den Fernverkehr - vereine die Nachteile beider Konzepte und bringe kaum Vorteile.
„Der greise Zauberer hat kein junges Kaninchen, sondern ein altes Karnickel aus dem Hut geholt", spottet der SPD-Fraktionsvorsitzende Claus Schmiedel über Geißler. Bereits 1997 wurde die Kombi-Idee im Raumordnungsverfahren geprüft und verworfen. Denn das Nadelöhr vor dem Hauptbahnhof bliebe dabei ebenso bestehen wie ein Großteil der oberirdischen Schienenwüste, die eigentlich einem neuen Stadtteil mit größerem Park Platz machen soll. Auch die Risiken der Tiefbohrungen in der Nachbarschaft der Mineralquellen blieben.
Geißler hält sein Modell für deutlich billiger und doppelt so gut wie die geplante Tieferlegung des Bahnhofs. Außerdem könne es besser zur Befriedung der Stadt beitragen als eine Volksabstimmung, die nur Sieger und Besiegte kennt. Der ehemalige CDU-Generalsekretär sieht sich in der Tradition des Aufklärers Immanuel Kant. Dieser hatte im 18. Jahrhundert den Streit zwischen Empiristen und Rationalisten mit einem philosophischen Kompromiss gelöst und den „Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit" propagiert.
Doch die Rolle des greisen Weisen nehmen Geißler nicht alle ab - und er hält sie auch nicht durch. Ausgerechnet der Schlichter, der sein Konzept „Frieden in Stuttgart" nennt, greift in der Hitze der Stresstest-Debatte am Freitag im Stuttgarter Rathaus zu einem üblen Goebbels-Zitat: „Wollt ihr den totalen Krieg?" Verärgert reagieren die Teilnehmer auch darauf, dass er erst nach einem langen Tag anstrengender Diskussionen sein Papier präsentiert. „Warum hat er das nicht gleich auf den Tisch gelegt?", wird gefragt.
Überrascht hat Geißler auch die Gegner von S21. Ihre Hoffnung, dass der Polit-Fuchs ihnen zum Erfolg verhilft, war in den vergangenen Monaten geschwunden. Jetzt schöpfen sie neuen Mut. Doch die Deutsche Bahn sorgt schon einen Tag danach für einen Dämpfer: Mit der Vergabe von Bauaufträgen für mehr als 700 Millionen Euro demonstriert der Konzern: Geredet wurde genug, jetzt wird gehandelt. Auch der versprochene zweite Simulationslauf für den Tiefbahnhof werde das Projekt nicht mehr kippen können, heißt es bei der Bahn.
Wie es jetzt aussieht, kann der S21-Zug nur noch gestoppt werden, wenn die Baden-Württemberger bei der geplanten Volksabstimmung im November für einen Ausstieg des Landes stimmen. Doch das ist unwahrscheinlich. Selbst wenn alle 1,2 Millionen Menschen, die bei der Landtagswahl die Grünen gewählt haben, mitmachten: Es würde bei weitem nicht reichen. Nötig wären doppelt so viele Stimmen.
Aber auch für die Deutsche Bahn wird es jetzt schwerer. Der neue Schlichterspruch droht den Konflikt zu verschärfen statt ihn zu beenden. Die Gegner berufen sich jetzt auf Geißler und werfen der Bahn vor, rücksichtslos Fakten zu schaffen. Auch für die neue Landesregierung ist keine Entspannung in Sicht. Der Streit zwischen den S21-Befürwortern der SPD und den grünen Gegnern geht weiter. (dpa)