Deindustrialisierung: Nur Panikmache?

In Kürze Die Nerven in vielen Unternehmen in Deutschland liegen blank - aus diversen Gründen. Firmenchefs ziehen Konsequenzen und investieren nicht mehr hier, sondern im Ausland. Blutet Deutschland industriell tatsächlich aus? Und was heißt das für Speditions- und Logistikfirmen? Eine Bestandsaufnahme. Schon seit Monaten sind Chemieunternehmen dabei, ihre Produktionsanlagen aus Deutschland ins Ausland zu verlagern. Das beobachtet Jürgen Greiwing, geschäftsführender Gesellschafter des mittelständischen Speditions- und Logistikunternehmens Greiwing in Greven, das sich auf Komplettlösungen in der Silologistik spezialisiert hat - insbesondere für Kunden in der Chemie, Bauindustrie und Pharmabranche. Keine Luftnummer, sondern Realität Aktuelles Beispiel sei ein großer Anbieter in Düsseldorf, dessen Namen Greiwing nicht nennen will, der gerade in den Niederlanden über den Aufbau einer neuen Produktionsanlage verhandele. Und das, obwohl das Nachbarland nur 60 Kilometer von Düsseldorf entfernt liege. "Es steht wirklich zu befürchten, dass sich ganze Industriestränge in der Chemie aus Deutschland verabschieden, weil hier die Energie- und Personalkosten extrem hoch sind", warnt Greiwing. "Das ist keine Luftnummer. Das ist Realität." Für ihn als Speditions- und Logistikdienstleister heißt das auch: "In der Logistik ist heute nichts mehr sicher - zumindest nicht in dem Geschäft, in dem wir tätig sind." "Deutschland blutet industriell ein gutes Stück aus", stellt auch Marcello Danieli fest. Als geschäftsführender Gesellschafter führt er mit Hermann Allgaier die Geschäfte von Harder Logistics in Neu-Ulm, das sich unter anderem auf Betriebsverlagerungen spezialisiert hat. "Es werden hier keine LED und keine Solarpaneele mehr produziert, obwohl wir das in Deutschland erfunden haben. Das wandert alles ins Ausland ab." Er selbst sehe das sehr zwiegespalten, sagt Danieli: Einerseits profitiere er als Dienstleister von solchen Betriebsverlagerungen ins Ausland. Andererseits sehe er für den deutschen Standort schwarz, wenn selbst hochprofitable Unternehmen wie BMW ihre Neuinvestitionen nicht mehr hier, sondern zum Beispiel in den USA tätigen, weil sie da ihre Zukunft sehen. "317 Firmen hat allein Harder Logistics in sechs Jahren ins Ausland umgezogen. Nicht nur nach Osteuropa, sondern auch nach Übersee - vornehmlich nach Indien, Mexiko und China." Und die Nachfrage steige weiter. Im April hatte er 30 Aufträge für Betriebsverlagerungen ins Ausland. Manche Branchen besonders betroffen Die Deindustrialisierung in Deutschland hat begonnen. Das belegt auch eine Umfrage aus dem März 2023 der Unternehmensberatung Deloitte unter Managern. Demnach haben schon 37 Prozent der Befragten mit der Verlagerung ins benachbarte Ausland begonnen oder diese Maßnahme bereits umgesetzt; weitere 29 Prozent planen, diese zu ergreifen. Die Verlagerung von Teilen der Lieferkette in sogenannte befreundete Länder haben Deloitte zufolge 22 Prozent der Befragten begonnen oder schon umgesetzt (geplant: 33 %). "Ich weiß das von etlichen Firmen aus der Automobil- und Automobilzuliefer-Industrie, der Komponenten-Fertigung und der Chemiebranche. Ich sehe auch, dass einige Werkzeug-maschinen-Hersteller nach Asien abwandern", bestätigt Professor Horst Wildemann (siehe S. 20). Er war lange Jahre Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre - Unternehmensführung, Logistik und Produktion an der TU München und gilt als profunder Kenner der deutschen Industrieszene. "Und für diese Entscheidung ist nicht die Größe eines Unternehmens maßgeblich, sondern welchen Anteil die Energiekosten an den gesamten Herstellungskosten haben. Wenn der Energiekosten-Anteil bei über zehn Prozent liegt, können das die Unternehmen preislich nicht mehr kompensieren", erklärt Wildemann. "Jedes Unternehmen mit dieser Kostenstruktur denkt über die Verlagerungen nach. Sie haben auch keine andere Wahl, wenn ihre Produkte aufgrund der hohen Kosten nicht mehr wettbewerbsfähig sind." Die Folgen für den Standort Deutschland sind schon jetzt sichtbar. So werde der Chemiekonzern BASF 2500 Stellen allein am Sitz Ludwigshafen streichen, nennt Gitta Connemann, Vorsitzende der Mittelstands- und Wirtschaftsunion (MIT), ein Beispiel. Der Pharma- und Agrarkonzern Bayer wolle überdies den Schwerpunkt seines Pharmageschäfts weg aus Europa in die USA und nach China verlagern. Die deutsche Traditionsfirma Linde habe ihren Konzernsitz mittlerweile sogar aus Deutschland nach Dublin verlagert und sei nun an der Börse in New York notiert. "Zurzeit findet eine Erosion statt. Diese Strukturbrüche müssten uns allen massive Sorgen machen", warnt sie. "Denn es geht nicht allein um Konzerne. Es geht um die vielen kleinen und mittleren Unternehmen, die das Rückgrat der deutschen Wirtschaft bilden." Für Unternehmen jeder Größe sei der deutsche Standort schlichtweg innovations-unfreundlich und nicht mehr wettbewerbsfähig. Die Gründe: hohe Abgaben und Preise, überbordende Bürokratie. Auch in Sachen Unternehmenssteuern werde nirgends in der EU so zur Kasse gebeten wie in Deutschland. "In der EU liegt die effektive Steuerbelastung im Schnitt bei 18,8 Prozent, in Deutschland bei durchschnittlich 28,8 Prozent", nennt Connemann Zahlen des Mannheim-Tax-Index des ZEW. "Alles das bildet zusammen einen toxischen Cocktail, auf den Betriebe mit Produktions-Verlagerungen oder Einstellungen reagieren." Zukunftsprodukte gehen ins Ausland Einer aktuellen Umfrage des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) zufolge soll jedes fünfte Zulieferunternehmen in Deutschland darüber nachdenken, den deutschen Standort zu verlassen. Bestätigen kann Conny Schönhardt von der Stabsstelle Fahrzeugbau beim IG-Metall-Vorstand diese Zahl zwar nicht. Richtig sei aber, dass in der Zulieferbranche Standorte, Teilprodukte und Neuentwicklungen nicht mehr nur in Deutschland stattfinden: "Viele Investitionen finden in Osteuropa statt, aber auch in den USA und China - eben da, wo auch die Absatzmärkte sind. Das heißt aber nicht", betont sie, "dass das ganze Unternehmen geht. Das sind immer nur Teilbereiche und es betrifft überwiegend kleinere Standorte." Im Gespräch seien da aktuell diverse Standorte namhafter deutscher Automobil-Zulieferer. Gründe für die Betriebsverlagerungen seien zum einen die Investitions-Unterstützung in manchen Staaten - etwa der Inflation Reduction Act in den USA - aber auch die Energiekosten in Deutschland. Ein Beispiel sei Volkswagen, das seine energieintensive Batteriezellen-Produktion in Kanada plant, weil die Energie dort sehr günstig ist. Und so wie Volkswagen ergeht es auch anderen Anbietern. "Wir sehen also, dass neue Produkte, Zukunftsprodukte ins Ausland gehen, auch nach China. Das geht von Deutschland weg", sagt Schönhardt. Auswirkungen auf Logistiker Das hat Folgen für Speditions- und Logistikdienstleister. "Die Sorge ist natürlich stets da, dass ein Kunde abspringt oder auch ins Ausland abwandert", räumt Geschäftsführer Greiwing ein. Denn nicht jedem Kunden könne das Unternehmen auch ins Ausland folgen. "Als Mittelständler sind wir nicht so international aufgestellt wie manche unserer Marktbegleiter. Im konkreten Fall müssten wir also entscheiden, ob wir unserem Kunden folgen und dort investieren." Andernfalls ist der Kunde weg, der Auftrag für den Dienstleister verloren. Und wie will Greiwing sein Unternehmen sicher durch solche unsicheren Zeiten steuern? "Das Wichtigste ist, dass wir jetzt Ruhe bewahren. Panik hilft in dieser Situation nicht weiter." Wichtig sei auch ein mittel- und langfristiges Denken, der Fokus auf das Personal und vor allem ein tägliches Monitoren der Auftragsmengen. "Einmal im Monat die BWA anzuschauen, reicht nicht mehr. Heute muss man sich täglich die Entwicklung der Mengen anschauen - sowohl im Lager als auch auf der Straße. Notfalls muss man sofort gegensteuern." Eines sei aber sicher: Greiwing werde weiterhin auf die Chemiebranche setzen. Noch entfallen rund 30 Prozent des Umsatzes auf diese Industrie. Doch die Firma hat vorgesorgt: "Wir sind strategisch breit aufgestellt und auch in der Baustoff-, Lebensmittel- und Pharmaindustrie stark." Etwaige Rückgänge in der Chemie kann also zumindest die Unternehmensgruppe Greiwing kompensieren. Interview: Zukunft der deutschen Schlüsselindustrien Professor Horst Wildemann, Unternehmensberatung TCW Transfer-Centrum in München Immer mehr Produzenten zieht es aktuell ins Ausland – vermehrt aus Kostengründen. Wie können Speditions- und Logistikdienstleister die Unternehmen auf diesem Weg unterstützen? Zum einen über wettbewerbsfähige Preise. Die Logistikkosten sind ja gerade in der Pandemie fallweise explodiert. Auch hilft ein differenziertes Leistungsangebot, das die Dienstleister idealerweise proaktiv für ihre Kunden entwickeln. Wichtige Themen aus Kundensicht sind da die Einhaltung von Lieferzeiten, die Lieferzeiten-Präzision, das Monitoren von Lieferketten. Hinzu kommen neue Aufgabenumfänge durch das Lieferkettengesetz. Bei alledem hilft die Digitalisierung, etwa Künstliche Intelligenz. Unterm Strich werden sich die Services der Logistikdienstleister stärker ausdifferenzieren, also in kleinteiligere Warenströme, in langsame und schnelle Auslieferungen – vielfach auch einhergehend mit neuen Kooperationen, vor allem auf der letzten Meile. Welche Schlüsselindustrien, die wir heute haben, werden mittel- und langfristig in Deutschland bleiben? Zu unseren Schlüsselindustrien zählen in Deutschland die Automobil- und Bauindustrie, die chemische Industrie sowie die Elektroindustrie und der Maschinenbau. Diese werden auch in Zukunft in Deutschland produzieren; schlichtweg deshalb, weil Europa ein großer Markt ist. Und die Tendenz, dort zu produzieren, wo der Markt und die Kunden sind, wird anhalten. Diese Tendenz wird sogar noch stärker werden, weil wir eine noch stärkere Differenzierung des Leistungsbündels im Markt sehen. Diese Individualisierung, die der Kunde heute will, kann man nicht im fernen Ausland hinbekommen; die muss vor Ort, in der Nähe des Kunden passieren. Sprich: Wenn die Kaufkraft hierbleibt, wird auch die industrielle Wertschöpfung im großen Umfang in Deutschland bleiben. Das komplette Interview können Sie hier lesen.

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