Lkw-Fahrer mit Behinderung: Trotz Querschnittslähmung zum Berufskraftfahrer

"Als Kind fand ich Lkw schon immer cool", erzählt Holger Schönenberg und lacht fröhlich. Der heute 50-Jährige hat sich deshalb vor einigen Jahren dazu entschlossen, sich endlich seinen Traum vom Lkw-Führerschein zu erfüllen - obwohl er seit seinem 15. Lebensjahr infolge einer Operation am Rückenmark im Rollstuhl sitzt. Doch er hatte Glück im Unglück: Da seine Querschnittslähmung inkomplett ist, kann er aufstehen und sich an einem Handlauf fortbewegen. Allein dieser Tatsache hat er es zu verdanken, dass er in seinem Leben bereits viele seiner Ideen verwirklichen konnte: Etwa einen Pilotenschein zu erwerben, was er sich als kleiner Junge ebenfalls ausmalte - und dann das Lkw-Fahren. Doch dazu kam es erst viel später. Zunächst verlief sein Leben sehr abwechslungsreich: Holger machte Abitur, begann ein Medizinstudium, das er abbrach, um mehr Zeit für das Segeln zu haben. Nach einigen Jahren als Segellehrer, die ihn auch zu einem Vizeweltmeistertitel im Para-Segeln führten, arbeitete er einige Zeit im Marketing. Es folgten die Selbstständigkeit und zwei Firmengründungen, dann machte er endlich seinen Pilotenschein. Doch schon nach rund eineinhalb Jahren bei einer deutschen Fluggesellschaft kam Corona, was die Abläufe in seinem Job erschwerte, sodass er sich nach einem solideren Tätigkeitsfeld umsah und in der Landesluftfahrtbehörde in Münster landete. Doch auch dort merkte Holger bald: "Mir fehlt etwas, ich muss irgendwas Praktisches machen. Und etwas Praktisches heißt bei mir, ich muss irgendein großes Fahrzeug, Luftfahrzeug oder Schiff bewegen." Keine Zeit für Zweifel Ein weiterer Aspekt reizt ihn: "Ich muss Verantwortung in meiner Arbeit haben. Ob du Skipper auf der Segeljacht bist und Verantwortung für das Boot und die Mannschaft trägst, beim Flugzeugfliegen für die Millionen an Sachwert und die Menschen hinten drin verantwortlich bist, oder beim Lkw-Fahren 40 Tonnen durch die Gegend bewegst - du trägst genau die gleiche Verantwortung", findet er. Das hat ihm im Büro gefehlt. Auf seine Ideen reagieren die Leute meist gleich, erzählt Holger: Die einen sind die Bedenkenträger, während die anderen seine Pläne feiern. Wenn ihm jemand sagt, dass Lkw-Fahren mit Behinderung nicht geht, dann fragt er: "Bist du schon mal Lkw gefahren? Nein? Woher weißt du das dann?" Er nimmt es ihnen nicht übel: "Ich sage dann immer, ich weiß noch nicht wie, ich muss mal gucken, aber das wird sich schon irgendwie fügen. Ich habe sehr viel Vertrauen, dass sich die Dinge ergeben", sagt Holger. Er erzählt, wie er mit Optimismus, Elan und Beharrlichkeit seinen Weg zum Fahrerjob fand. Der Weg zum Lkw Über seinen besten Freund bekam er schließlich Kontakt zum Fahrzeughersteller MAN in Osnabrück. Das MAN-Team war gleich Feuer und Flamme, ihm dabei zu helfen, Lkw-Fahrer zu werden. Und es hatte auch eine Spedition im Auge, die Interesse daran haben könnte, mitzumachen: Sievert Logistik in Lengerich vor Münster. Von Beginn unterstützte die Fuhrparkleitung des auf Silo- und Planentransporten spezialisierten Unternehmens das Projekt engagiert: "Sie haben gesagt, das ist doch nur ein technisches Problem und technische Probleme kann man lösen", erinnert sich Holger. Sievert-Geschäftsführer Karsten Bley, wie Holger Typ "Macher", ließ sich ebenfalls schnell überzeugen: "Holger hat so einen Logistik-Spirit, er hat so einen Lebensmut, da habe ich gar nicht drüber nachgedacht und mir waren auch die Kosten relativ egal. Wir haben gesagt: Das machen wir einfach." Und jetzt, da Holger neben seinem Hauptberuf einmal die Woche für Sievert Logistik fährt, ist er hochzufrieden mit ihm: "Er ist auch menschlich eine super Bereicherung, er ist eine Inspiration für uns. Für das Team und das gesamte Unternehmen hat er eine totale Vorbildfunktion." Dass Holger für Sievert Logistik fährt, bringt dem Unternehmen nicht nur Anerkennung und Wertschätzung, sondern hat auch die Kollegen zusammengeschweißt, berichtet Bley weiter. Das sei gerade vor dem Hintergrund des zunehmenden Berufskraftfahrermangels ein wichtiges Thema für das Lengericher Logistikunternehmen. Die Fahrersuche erschwert bei Sievert Logistik, dass das Unternehmen spezielle Silosteller anbietet. Es handelt sich dabei um große Baustellensilos, die transportiert, gekippt und sehr eng an den Baustellen aufgestellt werden müssen - und das können oder wollen nicht viele, erklärt Bley. Im Kampf gegen den Fahrermangel hat Sievert Logistik Schichtmodelle eingeführt und arbeitet mit Personaldienstleistern zusammen. Auch bildet das Unternehmen selbst Berufskraftfahrer aus. Wenn erfahrene Fahrer etwa Praktikanten mit auf Tour nehmen, erhalten sie als finanzielles Dankeschön eine Ausbilderprämie. Der Fahrer, der am spritsparendsten, mit den wenigsten Schäden und viel mit Retarder fährt, kann sich seinen Lohn durch die Eco-Prämie aufbessern. "Das wird sehr gut angenommen", freut sich Bley. Mut, die Dinge anzugehen Gerade im Hinblick auf den Fahrermangel plädiert der Unternehmenschef dafür, die positiven Seiten des Berufskraftfahrerlebens aufzuzeigen. Und wie das Beispiel Holger zeige, gehe das auch mit einer Einschränkung. Bley bewertet die Erfahrung, an Holgers Weg in den Lkw beteiligt gewesen zu sein, durchweg positiv. Andere Transportunternehmen möchte er ermutigen, wenn sich Menschen mit Restriktionen welcher Art auch immer melden: "Ich würde empfehlen, keine Angst vor irgendwelchen Grenzen zu haben", sagt der Geschäftsführer bestimmt. "Wir sind in der Logistik, wir müssen flexibel sein und ich kann nur jedem raten, Inklusion auch zu leben - Sie kriegen deutlich mehr zurück, als Sie investieren." Bevor Holger aber losfahren konnte, musste Sieverts nagelneuer MAN umgebaut werden - dafür holte das Unternehmen den Karosserie- und Fahrzeugbauer Greshake aus Münster ins Boot: Dieser baute eine Handsteuerung für Gas und Bremse und einen Drehknauf für das Lenkrad ein. Damit Holger den Auflieger selbst ankoppeln kann, wurden ein verstaubares Klappbrett und ein Geländer angebracht: So kann er sich aufrichten und über das Brett rutschen, um die Schläuche zu befestigen. Holgers Rollstuhl findet Platz in einer verschließbaren Kiste, die sich vor dem ersten Reifen des Aufliegers auf der Beifahrerseite befindet. Direkt daneben wurde ein ausziehbarer Klappsitz eingebaut: Holger zieht diesen zunächst heraus, setzt sich darauf, hebt den Rollstuhl in die Kiste und verschließt diese. Dann richtet er sich an einer kleinen Rehling auf, verstaut den Klappsitz wieder und bewegt sich am Handlauf zur Beifahrertür. Anfangs hangelte sich Holger allein mit seiner Armkraft in die Fahrerkabine - doch das war auf Dauer nicht stemmbar. Deshalb wurde nachträglich ein Sitzlift eingebaut, den er via Fernbedienung manövriert. Insgesamt kosteten die Umbauten laut Sievert Logistik knapp 25.000 Euro, Bley betont aber: "Das war am Ende des Tages auch egal, denn Holgers Spirit kann man durch kein Geld aufwiegen." Intensivfahrschule Während noch am Lkw getüftelt wurde, kümmerte sich Holger um seinen Führerschein: "Ich habe recherchiert und festgestellt, es gibt eine Fahrschule in Deutschland, die tatsächlich einen Lkw mit Handsteuerung hat." Bei der "Fahrschule am Bahnhof" in Göttingen werden Chancengleichheit und Inklusion großgeschrieben. Chef Udo Wichmann blockte den Lkw für zwei Wochen, doch Holger schaffte seinen Lkw-Führerschein in nur neun Tagen. "Es hat super gut funktioniert und wahnsinnig Spaß gemacht. Die erste Fahrstunde in dem Lkw war einfach geil", erzählt er strahlend. Nach dem Führerschein kümmerte er sich um seine Module, um als Berufskraftfahrer arbeiten zu dürfen: "Am Anfang hat sich keiner der anderen Fahrer so richtig getraut zu fragen, aber ich bin ein offener Typ und wenn dann Kaffeepause ist, erzähl ich, wo ich neulich unterwegs war - und dann kommen die Fragen. Ich muss sagen, in 99 Prozent der Fälle bekomme ich nur positives Feedback. Die sagen: ,Voll cool, hätte ich nicht gedacht, und auch stark von der Spedition!' - da kommt viel Anerkennung." Andere sind kritischer, was einen Rollstuhlfahrer im Lkw angeht - etwa wenn es um das Thema Ladungssicherung geht oder um das Verhalten im Falle einer Panne. Dann erklärt Holger: "Bei einer Panne steige ich auf der sicheren Seite aus und der TÜV hat erlaubt, dass ich statt eines Warndreiecks ein gelbes Blitzlicht mit Magneten ans Führerhaus mache." Das nächste Ziel Zwar verteuerte der umgebaute Fahrschul-Lkw den Lkw-Führerschein deutlich. "Das war es mir aber auch wert", betont Holger. "Das Leben mit Behinderung ist immer teurer. Man muss stets draufzahlen, weil man nicht die freie Auswahl hat. Es gibt natürlich auch entsprechend Kompensationsmittel vom Staat." Damit ist Holger zufrieden: "Ich finde, wir leben in einem Land, in dem wir ziemlich viel vom Staat bekommen." Holger hat sich seinen Traum erfüllt und fährt neben seinem Bürojob bei der Landesluftfahrtbehörde nun jeden Freitag Lkw für Sievert Logistik. Die Ladungssicherung gestaltet sich derzeit allerdings tatsächlich etwas schwierig. Deshalb ist er fürs Erste mit seinem Kollegen Oliver Brock unterwegs, der sich darum kümmert, während Holger das Fahren übernimmt. Bei jeder Tour essen die beiden zusammen eine Mikrowellen-Currywurst in dem gut ausgestatteten Lkw. "Mich reizt in erster Linie das Fahren, deshalb frage ich nicht: ,Wann kann ich endlich allein fahren?' Aber es wäre schon das Ziel, dass man auch Möglichkeiten findet, wo es eben auch allein geht", erklärt Holger. Sein nächster Traum ist der Busführerschein: "Das wäre wirklich noch so ein Ding, da hätte ich richtig Lust. Das wäre quasi wieder alles von vorne, weil ich weiß nicht genau, ob es eine Fahrschule gibt, die einen umgebauten Bus hat und dann müsste ich zur Fahrerlaubnisbehörde in Münster ... Aber mal gucken, vielleicht kommt das noch", sagt Holger und lacht. Er lebt sein Motto: "Das Leben ist zum Leben da und ich wollte Flugzeuge fliegen und Boote fahren und Lkw fahren - und dann mache ich es halt auch."

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