Countdown zum Chaos?

Die letzten Rettungsversuche laufen: Der britische Premier Boris Johnson hat seinen irischen Amtskollegen besucht, mit Merkel und Macron telefoniert, die Drähte nach Brüssel glühen lassen - bislang alles ohne Ergebnis. Der Countdown läuft also unerbittlich weiter, und wie es aussieht, wird das Vereinigte Königreich am 31. Oktober um 24 Uhr die Europäische Union ohne Austrittsabkommen verlassen. Dieser sogenannte harte Brexit wird Transportdienstleister im England-Geschäft auf eine harte Probe stellen. Ihnen bleiben nur wenige Wochen, um sich auf das Unvermeidliche einzustellen? Was auf Ihrer To-do-Liste für den Brexit auf jeden Fall ganz oben stehen sollte, ist: "Die Kommunikation mit den Zollbehörden und Kunden", sagt Niels Beuck, Geschäftsführer des Bundesverbandes Spedition und Logistik DSLV in Berlin. Vor allem für Dienstleister, die bisher ausschließlich Transporte innerhalb der EU organisiert haben, bedeutet der Brexit einen großen Schritt. Sollte es zu einem harten Ausstieg kommen, würde Großbritannien ab dem 1. November wie ein Drittland behandelt, was bedeutet, dass alle Waren das Zollverfahren durchlaufen müssen. Firmen, für die das Neuland ist, haben viel zu tun: Sie müssen eine sogenannte EORI-Nummer (Economic Operators Registration and Identification Number) beantragen, um elektronisch mit den Zollbehörden kommunizieren zu können. Zudem heißt es, die dafür nötige Software anzuschaffen (Atlas-System) und ein Nutzerkonto einzurichten. Transportbetriebe, die diese zusätzliche Aufgabe nicht stemmen können oder wollen, können sie auch einem externen Zollagenten übertragen (Tipp: Die IHK hat eine umfassende Brexit-Checkliste erarbeitet: ihk.de/ brexitcheck). Wichtig ist zudem, die Kunden mit ins Boot zu holen. "Jeder Spediteur sollte die Verlader darüber aufklären, welche Daten sie zur Verfügung stellen müssen und dass sich durch die Zollabfertigung Verzögerungen ergeben könnten", rät DSLV-Geschäftsführer Beuck.Bei allen zusätzlichen Arbeiten, die nach einem Brexit anfallen, stellt sich die Frage, wer sie bezahlt. Denn die zolltechnische Abwicklung kostet Manpower und damit Geld. Alle Transportprofis sollten daher jetzt ihre Verträge durchleuchten. Existieren noch Abmachungen aus der Zeit vor der Brexit-Abstimmung, sollte sich der Spediteur mit dem Auftraggeber zusammensetzen und klären, wie mit den Mehrkosten zu verfahren ist. Ob ein Dienstleister einen solchen Vertrag außerordentlich kündigen kann, ist unter Juristen umstritten. In neu abgeschlossenen Verträgen sollte eine Brexit-Klausel aufgenommen werden, die regelt, was im Fall von "Leistungsstörungen" (Beispiel: Verspätungen wegen Staus an der Grenze) passiert und wer die Mehrkosten übernimmt.Grundsätzlich können deutsche und europäische Lkw selbst nach einem harten Brexit weiterhin über britische Straßen rollen - zumindest bis einschließlich Juli 2020. So lange gilt eine Übergangsfrist. Auch die EU-Güterkraftverkehrslizenz gilt bis Juli 2020 weiter. Für die Zeit danach müssten einige Spediteure eventuell eine CEMT-Genehmigung beantragen, wie sie im Verkehr mit Russland oder der Türkei nötig ist. Kabotagefahrten sind auf der Insel ebenfalls möglich, indes nur eingeschränkt: In den ersten vier Monaten nach einem harten Brexit dürfen zwei Kabotagebeförderungen innerhalb einer Woche auf der Insel durchgeführt werden, in den drei folgenden drei Monaten danach nur eine pro Woche - und danach keine mehr.Das Tückische am Brexit ist, dass selbst beste Vorbereitung kein reibungsloses Geschäft danach garantiert. Die große Unbekannte sind die Engländer. EinigeExperten bezweifeln, dass der britische Zoll der anstehenden Herkulesaufgabe gewachsen ist. Sie sagen für Anfang November einen Mega-Stau von Calais bis London voraus, mit Lkw-Wartezeiten von zwei bis drei Wochen. DSLV-Geschäftsführer Beuck sieht das gelassener. "Ich glaube nicht an Weltuntergangs-Szenarien, der britische Zoll wird pragmatisch vorgehen."Mehr dazu im Dossier Großbritannien www.verkehrsrundschau.de/dossiers In Kürze Je näher der 31. Oktober 2019 rückt, desto größer die Angst vor dem GAU. Aus gutem Grund: Denn Boris Johnson, Premierminister des Vereinigten Königreichs ist stets für Überraschungen gut. Alle schauen auf den entscheidenden EU-Gipfel am 17. und 18. Oktober. Ob er die Lösung bringt? Fest steht: Die Transport- und Logistikbetriebe sind auf einen Brexit vorbereitet. Convent Spedition: eine Auszubildende zusätzlich in die Zollabteilung Transporte nach Großbritannien und Irland sind die Spezialität der Convent Spedition in Emmerich am Rhein. Rund 30 Lkw schickt sie jede Woche in Richtung Insel los, meist beladen mit Chemieprodukten oder Konsumgütern. Angesichts eines harten Brexits bleibt Christoph Keuer, Leiter Transport & Disposition UK, gelassen."Wir sind international tätig und kennen uns mit der Zollabfertigung aus." Transporte Richtung United Kingdom (UK) ebenfalls zolltechnisch zu verarbeiten, sei kein Problem. Sicherheitshalber wurde eine Auszubildende, die sich im letzten Lehrjahr befindet, in die Zollabfertigung eingearbeitet."So steht notfalls eine Person mehr zur Verfügung", erklärt Keuer. Jetzt schon zusätzliches Personal einzustellen sei wegen der Unsicherheit zu riskant - zumal der Markt kaum Zollexperten hergebe. Anpassungen in Verträgen musste Convent bisher nicht vornehmen.Man wartet aber mit der Unterzeichnung von Neuverträgen bis Ende Oktober ab. Mehr "Hausaufgaben" müssen derzeit die Transportbetriebe, mit denen Convent zusammenarbeitet, erledigen. Ein britischer Transporteur hat sich schon Lizenzen für Fahrten in die EU besorgt - bislang für die Hälfte seines Fuhrparks. Abwarten, nicht zu viel investieren, lautet überall die Devise.Auf der Kundenseite sei die Lage im Moment relativ ruhig, berichtet Keuer."Im März war die Unsicherheit deutlich spürbarer. Damals haben viele Kunden im UK ihre Lager aufgestockt - was bei uns für eine Sonderkonjunktur sorgte." Ein britischer Kunde allerdings denke im Moment darüber nach, seine Lagerhaltung komplett nach Deutschland zu verlegen, um so besser die EU beliefern zu können. So könnte für die Spedition durch den Brexit sogar ein zusätzlicher Auftrag entstehen. Sorgen macht dem Leiter Transport & Disposition UK derzeit eher die Lage auf der Insel. "Die Frage ist doch, was mit dem britischen Export passiert. Wird es genug Rückladungen geben?" Totales Chaos jedoch erwartet der Marktkenner am 1. November 2019 nicht. Um nicht leere Regale in den Supermärkten zu riskieren, werde die Regierung eine Lösung anstreben, ist sich Keuer sicher."Die Grenzen für Fahrzeuge aus der EU werden offen bleiben." cg

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