Mercedes-Benz Actros L 1853: Vom leisen Stern

Oft fallen Verbesserungen ja erst nach einiger Zeit auf. Nicht so beim neuen Mercedes-Benz Actros L. Hier bemerkt man bereits im Standgas, dass das Verbrennungsgeräusch des OM-471-Selbstzünders nun leiser in die StreamSpace-Kabine vordringt. Ergebnis einer besseren Dämmung, mit der der Hersteller endlich einen der Hauptkritikpunkte des Actros beseitigte, der immerhin schon seit der Präsentation des Grundmodells besteht, die mittlerweile elf Jahre zurückliegt. Auch in Fahrt bleibt das Geräuschniveau nun deutlich niedriger, ohne allerdings neue Bestwerte in dieser Disziplin zu setzen. Die obliegen weiterhin den Modellen der Wettbewerber aus Schweden. Was ebenfalls schnell auffällt: An Power mangelt es dem Reihen-Sechszylinder in seiner stärksten Form mit 530 Pferdestärken und 2600 Newtonmeter Drehmoment wahrlich nicht. Auch wenn er hier noch nicht in der jüngst vorgestellten, überarbeiteten Variante antritt (siehe VR 13/2022), gefällt er vor unserem neuen Testauflieger von Fliegl mit üppiger Leistungsentfaltung. Test mit Referenz-Lkw Der redaktionseigene Mercedes-Benz Actros 1845 mit beladenem Curtainsider von Schmitz Cargobull sorgt für vergleichbare Testergebnisse. Dafür wurde die VR-Testrunde unter gutenWetterbedingungen abgefahren. Liegen die Verbrauchswerte des Referenz-Lkw am Testtag über oder unter diesem Wert, ist klar, dass das Testfahrzeug schlechtere oder bessere Bedingungen hatte, was sich entsprechend zurückrechnen lässt. Vergleichsweise frühe Rückschaltungen Wozu die Abstimmung der Steuerungselektronik ihren Teil beiträgt. Die verordnet vor ernst zu nehmenden Steigungen mitunter schon in der Senke eine ungewohnt frühe Rückstufung in den elften Gang, wodurch sich die Drehzahl dann auf knapp 1400 Touren erhöht. Entsprechende Zugkraft und hohes Tempo sind an unseren Messbergen die Folge. Laut Daimler soll diese vergleichsweise ungewöhnliche Strategie auch in Sachen Wirtschaftlichkeit Vorteile bringen. Vorrangig ist sie aber wohl der Charakteristik des OM 471 geschuldet, an der sich auch mit dem angesprochenen Motoren-Update nichts grundlegend ändern wird. Das maximale Drehmoment steht bei 1100 Touren an, womit es in Relation zu den Sechszylindern aller anderen Hersteller deutlich später dran ist. In der Folge ist der Mercedes-Motor nicht unbedingt ein Freund niedrigster Tourenzahlen. An Stellen der Testrunde, wo der Wettbewerb seinen Motoren ein "Ziehenlassen", mitunter sogar unterhalb von 1000/min, verordnet, fährt man im Actros deshalb meist längst einen Gang niedriger. 1100/min liegen bei Reisetempo 85 an Die angesprochene Motorcharakteristik dürfte zudem der Grund dafür sein, dass Mercedes-Benz - ebenfalls anders als der Wettbewerb - weiterhin nicht auf eine extralange Hinterachs-Übersetzung auf der VR-Testrunde setzt. Bei Reisetempo 85 liegen 1100 Touren an, was heutzutage als vergleichsweise kurz übersetzt gelten muss. Spätestens bei 1050/min leitet das hauseigene Powershift-3-Getriebe im Normalfall steigungsbedingte Rückschaltungen ein. Dem "gefühlten" Tempo kommt die Angasfunktion um plus drei km/h vor steilen Bergen zugute. Vor allem aber will der Actros möglichst viel Schwung mit in die bevorstehende topografische Aufgabe nehmen, um so wertvolle Zehntelliter einzusparen. Anders als der Wettbewerb setzt der Mercedes diese Funktion übrigens auch ein, wenn an der Steigung später trotzdem noch eine Rückschaltung fällig wird. Lob gebührt der Daimler-Entwicklungsabteilung für die Abstimmung der einzelnen Komponenten. Motor, Getriebe und Motorbremse harmonieren auffallend gut mit der Software des GPS-Tempomaten. Der gönnt sich auf der Testrunde außerdem nicht die kleinste Abweichung von den vom Fahrer vorgegebenen Parametern. Stets weiß die Software genau, an welcher Stelle die Eco-Roll-Funktion oder die alternative Schubabschaltung die richtige Wahl darstellt. Und schreckt mitunter auch vor ungewöhnlichen Manövern nicht zurück. Von Ecoroll gleich in den elften Gang an Bergen bei entsprechend hoher Drehzahl? Für die digitale Actros-Kommandozentrale kein Problem. Einziges und schon öfter kritisiertes Manko: Beim Hineinrollen in Steigungen im Neutralmodus stellt das System den Kraftschluss weiterhin zu spät wieder her. So landet man eigentlich immer einige km/h unterhalb der eingestellten Tempomat-Geschwindigkeit, die erst mühsam bergauf wieder aufgeholt werden müssen. Kräftige Motorbremse anstatt Retarder Geht es dagegen bergab, hält im Testfahrzeug die High-Performance-Motorbremse das Tempo in gesetzlichen Grenzen, was auch mit 40 Tonnen Gesamtgewicht akzeptabel funktioniert. Zum einen, weil in Zusammenarbeit mit dem GPS-Tempomaten schon vor dem eigentlichen Gefälle die Drehzahl in für die Kraftentfaltung der Motorbremse nötige Höhen gehoben wird. Zum anderen nimmt die Elektronik ohne Zutun des Fahrers auch schon mal kurzzeitig die Betriebsbremse zu Hilfe, um die Geschwindigkeit wieder in verstoßfreie Bahnen zu lenken. Trotzdem: Die Option des Retarders (der bei Daimler Truck nun übrigens auch wieder über eine Öl- anstatt Wasser-Füllung verfügt) wäre weiterhin die komfortablere, weil leisere und insgesamt souveränere Lösung, die aber eben ein paar Kilogramm Nutzlastverlust zur Folge hätte. Das Testfahrzeug bringt so passable 7,3 Tonnen Eigengewicht auf die Waage. Ein paar Kilo spart, trotz guter Ausstattung, sicher auch die StreamSpace-Kabine gegenüber den größeren Fahrerhäusern des Daimler-Portfolios. Verbrauchsseitig im Mittelfeld Für neue Verbrauchsrekorde reicht es auf der Testrunde dieses Mal trotzdem nicht, mit 26,31 l/100 km ordnet sich der 1853 im guten Mittelfeld ein. Zur Ehrenrettung des Actros sei aber gesagt: Mit gerade mal knapp über 13.000 Kilometern auf dem Tacho hatte die Testsattelzugmaschine ihre Einfahrphase noch nicht gänzlich abgeschlossen. Und wie erwähnt steckt noch nicht die neueste Technik in ihrem Motorraum. Für die neue OM-471-Generation verspricht das Daimler-Marketing bis zu vier Prozent weniger Verbrauch. Was wir natürlich ebenfalls bald auf der VR-Testrunde überprüfen werden. Mehr zum Thema unter #MercedesBenzTrucks www.verkehrsrundschau-plus.de/hashtag Bewertung: Mercedes-Benz Actros L 1853 Motor/Antrieb (max. 140) 122 Getriebe/Kupplung (max. 140) 110 Bremsen (max. 120) 106 Lenkung (max. 40) 34 Pedale (max. 20) 16 Fahrverhalten (max. 60) 50 Sicht (max. 50) 45 Klima/Lüftung (max. 50) 40 Sitze (max. 40) 33 Armaturen/Instrumente (max. 50) 41 Scheibenwischer (max. 30) 24 Fahrerhaus (max. 240) 203 Gesamtwertung (max. 980): 824 Testurteil + gutes Spiegelersatzsystem, gute Fahrleistungen, akkurat arbeitender GPS-Tempomat, vergleichsweise niedrigesLeergewicht, bequemes Bett unten - vergleichsweise komplizierte Bedienung über Touchscreens, fummelige Lenkradtasten, unsaubere Kupplungssteuerug beim Anfahren Fazit: Digital ist nicht immer besser Jan Burgdorf, Test-Redakteur Der Actros L stellt seinen hohen Reifegrad unter Beweis. Mit den neuen Mirror-Cams lässt sich deutlich besser arbeiten und bei der Geräuschdämmung reagierte man auf die Kritik der Fahrer. Beim Verbrauch reicht es hier zwar für keine Spitzenplatzierung, ich bin aber schon jetzt gespannt, wie sich der überarbeitete OM 471 in dieser Disziplin später schlagen wird. Weiterhin nicht gelungen finde ich das digitale Bedienkonzept des Sterns. Vor allem Neulingebenötigen lange, bis sie sich in den Menü-Tiefen des rechten Bildschirms zurechtfinden. Und manches bleibt einfach unnötig umständlich. Das Einschalten der Nebelscheinwerfer hat beispielsweise mehrere Klicks zur Folge. Wo da der Vorteil zu einem herkömmlichen Schalterbesteht, erschließt sich mir nicht. jan.burgdorf@springernature.com In Kürze Den hier getesteten OM-471-Sechszylinder bietet Mercedes-Benz auch mit schwächeren Leistungseinstellungen an. Los geht es bei 422 PS, öfter im Fernverkehr zum Einsatz kommen die Versionen mit 448, 476 sowie 510 Pferdestärken. Technische Daten Motor: Sechszylinder-Reihenmotor (Mercedes-Benz OM 471), Common-Rail, asymmetrischer Turbolader, Euro 6e mit SCR-Kat, Abgasrückführung, Partikelfilter; Hubraum: 12.800 cm3, Leistung: 530 PS (390 kW) bei 1800/min, max. Drehmoment: 2600 Nm bei 1100/min Kraftübertragung: Automatisiertes Schaltgetriebe „Powershift 3“, unsynchronisiertes Dreigang-Grundgetriebe (MB G 281-12), Range- u. Splitgruppe, 12 Vorwärtsgänge, 4 Rückwärtsgänge, Hinterachsübersetzung: i = 2,412; automatisierte, elektropneumatisch betätigte Einscheiben-Trockenkupplung, 430 mm Durchmesser Fahrwerk: HA: 13,0-t-Hydoid-Antriebsachse; Vierbalg-Luftfederung mit Querstabilisator; VA: 7,5-t-Lenkachse, gekröpfte Ausführung, Zweiblatt-Parabelfederung, Querstabilisator Bremsen: Zweikreis-Druckluftbremsanlage, Scheibenbremsen, Motorbremse: High-Performance-Engine-Brake: 410 kW bei 2300/min, Option: Retarder (nicht im Testfahrzeug verbaut) Maße und Gewichte: Radstand: 3700 mm; L x B x H: 5858 x 2482 x 3971 mm; Leergewicht: 7308 kg (ohne Fahrer, inklusive 400 l Diesel; 60 l AdBlue) Verbräuche (inkl. AdBlue-Anteil) und Geschwindigkeiten: 342,8-km-Teststrecke l/100 km km/h Autobahn medium (40 t)A 9 Allershausen – A 93 Regensburg 25,88 85,19 Autobahn hügelig (40 t)A 3 Regensburg – Nürnberg 28,45 84,40 Autobahn Rolletappe (40 t)A 9 Nürnberg – Langenbruck 26,11 83,00 Landstraße (40 t)Langenbruck – Dasing 23,26 61,98 Autobahn leicht (40 t)A 8 Dasing – A 99 AS M-Ludwigsfeld 27,18 84,47 Durchschnitt: 27,18 84,47 Bergwertung Autobahn (Kindinger Berg, A 9)Zeit: 3,32 min, Vmin 74 km/h, Gang: 11 bei 1200/min

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