Zukunft des Nutzfahrzeugs

Zukunft des Nutzfahrzeugs75- statt 25-Meter-ZügeSpannende Visionen zur Zukunft des Nutzfahrzeugs waren auf der 7. Euroforum-Tagung in München zu hören. Schon der erste Redner der Tagung, Roman Mathyssek, der für die IHS Automotive Group in London tätige Chef der Global-Truck-Research, brachte die Stimmung der Branche auf den Punkt: „Was tun Deutsche, wenn Sie Licht am Ende des Tunnels sehen? Sie verlängern ihn!“ Britischer Humor, der die Stimmung der Branche momentan ganz gut trifft. „Den befürchteten Einbruch sieht man so noch nicht“, erklärt Mathyssek in seinem Vortrag über die Entwicklung der weltweiten Märkte, wobei er sich für Europa lieber auf die Aussagen der Spediteure und Fuhrunternehmer als auf Volkswirtschaftler stützt. Für negativen Wirbel sorgten die Scania-Meldungen des letzten Herbstes, in denen die Schweden zweimal ankündigten, die Produktion zu drosseln. In der Tat blieben manche Märkte am Boden und die Aufholjagd einiger Länder kühlte sich ab, so dass die Produktion in Europa stärker gedrosselt wurde als gedacht. Für Russland bewertet Mathyssek Putins Wiederwahl positiv, da personelle Stabilität gut sei für das Land – auch wenn sie politisch und moralisch bedenklich ist. Der überhitzte chinesische Markt dürfte sich über die Jahre abkühlen, während Brasilien weiterhin Potenzial habe. Das unterstreichen die geplanten Markteintritte von DAF, Navistar, Hino, Isuzu und einiger Chinesen. Letztere werden künftig verstärkt kooperieren und exportieren (müssen). Stabil zeigt sich auch Indien. Auch MAN-Technikvorstand Bernd Maierhofer bleibt vorsichtig: Er schätzt, dass selbst 2020 das 2008er-Niveau nicht erreicht werden wird und erwartet eine Konsolidierung auf hohem Niveau, auch in China. Wachstumsmärkte für MAN seien dagegen Chile, Mexiko, Südafrika, Indonseien und die Türkei. Unterschiedlich wie die Märkte sind die LKW – vom Einheits-Weltprodukt hat sich MAN verabschiedet: Allein für die Brasilien-Version des TGX musste man 120 Punkte ändern. Diese unterschiedlichen Ansprüche untermauert Walter Sladek, Entwicklungsleiter bei Daimler do Brasil mit anschaulichen Bildern und Filmen: Da wird ein Mercedes Axor auf einer Zuckerrohrplantage so vollgepackt, dass er aus eigener Kraft nicht mehr vom Acker kommt. „In Brasilien ist ein LKW ein Werkzeug, das bei extremen Einsätzen nach drei Jahren kaputt ist und ersetzt wird“, kennt Sladek den Alltag. Andere Sitten auch bei Details wie der Türverlängerung des Axor: Die ist bei der Euro-Version, wo der Preis zählt, nicht nötig. In der Türkei betrachten die Fahrer die Kabine als Wohnung und wollen ihre Straßenschuhe hinters verlängerte Türblatt stellen. Noch weiter herunter läuft das bei der Brasilien-Version, wo es ungebetene „Trittbrettfahrer“ abhalten soll. Die Ölknappheit wird Thema bleiben: Entsprechend treibt MAN alternative Antriebe voran, darunter auch Wasserstoff, der nicht ganz einfach zu handeln ist und bis zur Serie noch Zeit braucht: „Wenn ich hier in Kürze sage, gibt es da beliebige Zeiträume“, kommentiert Maierhofer die Realität. Größere Chancen räumt er Dual-Fuel-Systemen auf Diesel-Basis ein, vor allem mit CNG respektive Bio-CNG. Die ständig sinkenden Margen der Branche betrachtet Michael-Bernd Korte, Leiter Produktentwicklung bei Continental LKW-Reifen: Nach seinen Untersuchungen erwirtschaften die OEMs Ebits zwischen zwei und sechs Prozent. Die Reifenbranche schafft 0,5 bis sechs Prozent, die Flotten ein bis fünf Prozent, waren 2009 aber oft negativ. „Viele Flotten verlieren zwischen dem 15. und 24. Dezember noch ihr Geld“, spitzt Korte die Situation zu. Darum fordert er provokant: „Wir sollten nicht über 25-, sondern über 75-Meter-Züge sprechen, die Megacitys verbinden.“ Die Rohstoffpreise steigen weiter, darunter auch Naturkautschuk, dessen Preis binnen weniger Jahre von zwei auf fünf Dollar pro Kilo anzog. Dazu erhöht die Komplexität der arbeitenden Materialien die Rechnungen. „Unser Materialmix würde Stahlbau-Konstrukteuren schlimmste Albträume verursachen“, erläutert Korte die aufwendigen Simulationsverfahren. Neue Niederquerschnitte im Megabereich sieht er kritisch: Klar könne man beispielsweise mit 295/55 oder 315/45 wertvolle Zentimeter in der Höhe sparen, das geht aber zulasten des Bodendruckes respektive der Straße. Darum schiebt er gleich noch eine Abmessungsforderung hinterher: 4,20 statt 4 Meter Höhe brächten viel – aber auch Korte gibt zu, dass diesen Wunsch in der Realität viele Brücken vereiteln.Die Dampfmaschine hilft Sprit sparen „Feuer auf der Straße“ macht Voith, um die Abgasexergie des LKW via Hubkolbenexpander zu nutzen. Ein Test-LKW verbrauchte tatsächlich bis zu fünf Prozent weniger. Aktuell tüftelt man an Kosten und Gewicht, denn das per Seilinger-Prozess arbeitende Dampfmaschinchen darf nicht mehr als 200 Kilo wiegen und muss sich in zwei Jahren amortisieren. Den ersten Tag schloss Michael Lohmeier, der bei der deutschen Post DHL Head of Green Technologies und Solutions ist. Den künftigen Anstieg des CO2-Ausstoßes halte er mit 1,5 Prozent jährlich „für konservativ“ angesetzt: Die Logistik wächst weiter. Deshalb setzte sich DHL 2008 das Ziel, die CO2-Effizienz bis 2020 um 30 Prozent zu steigern. Das folgt leider dem Gesetz der Asymptote: Die ersten 10 Prozent bis 2012 schaffte man gut, „die weiteren 20 Prozent sind ein ganz anderer Hebel und der kostet richtig Geld“, blickt Lohmeier in die Zukunft. Für valide Zahlen investiert DHL viel in Messungen, bei denen je nach Methode 17 Prozent Unterschied auftreten können und auf der Strecke Madrid-Berlin 767 Kilo oder 924 Kilo CO2 emittiert werden. Die wahren Verbräuche, welche die Spritkosten aus der Buchhaltung lieferten, trugen massiv zu besseren Messwerten bei. Während Lohmeier die Fahrerlöhne eher konstant rechnet, summieren sich die Spritkosten bei Jahresfahrleistungen zwischen 70.000 und 250.000 Kilometern enorm, vor allem im Fernverkehr. In Großbritannien erweiterte man die „Teardrop“-Flotte von anfangs 60 auf mittlerweile fast tausend Einheiten, was laut Lohmeier im Schnitt sechs Prozent Sprit spart, im Idealfall bis zu zwölf Prozent. Darum plädiert auch er für 4,2 oder gar 4,3 Meter Gesamthöhe. Vorsichtiger ist er bei Hybriden im Verteilerverkehr und der E-Mobilität in der City-Distruibution. Beides sei Thema, trage in Summe aber wenig zur CO2-Reduktion bei und sei in Sachen Anschaffung und Nutzlast noch nicht optimal. LKW-Züge an die Oberleitung gelegt Futuristischer ging es am zweiten Tag weiter: Michael Ruf, bei Conti für Commercial Vehicles and Aftermarket zuständig, erwartet ab 2030 eine kleine Revolution in Sachen Nutzfahrzeugtechnik: Fahrer, Dispo und Fahrzeug sind dann per Datenwolke verbunden, die das Fahrzeug unfallfrei so sparsam wie möglich zum Ziel bringt. Der Fahrer bekommt nur noch Fahrzeit und Geschwindigkeit angezeigt, ein Head-up-Display soll das Hin- und Herfokussieren zwischen Straße und Anzeigen beenden. Dazu kommt das automatisierte Parkraummanagement, dass die vorhandenen spärlichen Kapazitäten besser nutzt. Die Spiegel sollen Kameras ersetzen, deren Displays in die A-Säule wandern. Eine Innenraumüberwachung soll Ermüdung oder Stress des Fahrers registrieren. Werden vor dem Fahrzeug Kinder oder andere Gefahren erkannt, soll das System die Augen respektive die Aufmerksamkeit des Fahrers dorthin lenken. Gernot Spiegelberg, einst Daimler-Vorentwickler für mechatronische Systeme, leitet heute bei Siemens das Leuchtturmprojekt E-Mobilität. Mit der TU München forscht er mit einem von Colani gestylten LKW-Zug, den er und seine Studenten mittlerweile als „mitfahrende Muttersau“ bezeichnen. Der soll die Interaktion LKW-PKW als fahrende Stromquelle neu definieren und kann stationär eingesetzt mehrere Elektrofahrzeuge laden. Das Forschungsprojekt soll 2014 wie einst im Roman von Jules Verne in 80 Tagen um die Welt fahren. 35 Quadratmeter große Solarpanele und eine ausfahrbare Windkraftanlage erzeugen autark Energie, dazu kommt ein kleiner Sechszylinder-Verbrenner, der nur im Bestpunkt läuft. Dank einem CW-Wert von 0,3 reichen bei 85-86 km/h 80 Kilowatt Leistung. So könnten künftig Speditionshöfe oder PKW-Parkplätze als Energie-Zwischenspeicher dienen, denn Strom wird künftig mit höherem Wind- und Wasserkraftanteil weniger kontinuierlich erzeugt werden als heute. Spiegelberg denkt auch über Stromabnehmer nach, mit dem der Zug die großen Magistralen per Oberleitung fährt. Dazu schweben ihm je zwei „verkabelte“ Nord-Süd- und Ost-West-Trassen vor, auf denen 75 Prozent des Fernverkehrs emissionsfrei liefe. Bergab würden die LKW-Züge Strom rekuperieren und ins Netz rückspeisen. Das deckt beim Nachfolger bis zu 80 Prozent des Energiebedarfs an den Steigungen. Der Zug wird heute schon über zwei kleine Hebel elektronisch gesteuert, im nächsten Schritt denkt Spiegelberg über eine Lenkung mit Gedanken nach, mit der der Zug quasi zum Körperteil wird. Eine Provokation für die BehördenDabei räumt er ein, dass das Fahrzeug „eine Provokation an die Zulassungsordnung“ sei, allein schon wegen der Radformel, die man momentan auf 8x2/2x4 festgelegt hat. Eine spezielle Bremsanlage an allen Achsen sorgt über eigene Kompressoren für zehn bar Konstantleistung. Die werden elektrisch übertragen, da das nicht pneumatisch geschehen muss. Nachteil des Zuges: Momentan wiegt die verbaute Batterie mit 1100 Liter Volumen noch rund 1,3 Tonnen. Doch viele der sehr futuristisch anmutenden Lösungen sind umsetzbar. Konkreter gab sich Walter Glück, leitender Projektmanager bei Leoni Bordnetzen. Zwischen 30 und 70 Kilo wiegt ein LKW-Bordnetz momentan, dessen Stückzahlen trotz hohem Handarbeitsanteil tendenziell Richtung eins tendieren. Um das zu reduzieren, könne man die Kabelquerschnitte trotz gleicher Robustheit in Teilbereichen des LKW-Segments verkleinern. Bei der Bordspannung diskutiert man über 48 Volt, das Problem sei immer noch der Lichtbogen respektive dessen Löschung. Eine Individualisierung der Produkte stellt auch Trailerhersteller Schwarzmüller fest, wo man auf kundenspezifische Lösungen spezialisiert ist und an aerodynamischen Seitenverkleidungen arbeitet. Die Schmerzgrenze, diese zu ordern, ist laut Vertriebsleiter Ernst Baumberger aber noch nicht erreicht. Die engere Zusammenarbeit mit den LKW-Herstellern wird künftig im Sinne einer besseren Aerodynamik unabdingbar. Aerodynamik und Individualität muss auch Daimler-Kabinen-Entwickler Stephan Kramb am neuen Actros vereinen, der 2600 Stunden im Windkanal stand. Die Modularität der Standardkabinen umfasst am Ende zehn Dächer, sechs Rück- und vier Seitenwände, zwölf Bodengruppen und Spoiler. Diese Verblockung spart Werkzeugkosten, dafür muss man jede Änderung über alle Teile ziehen. Jedes Licht wirft Schatten. Wer das weiß, braucht vor Tunneln und deren Verlängerung keine Angst zu haben. ❙❚■ Gregor SollerRund 90 Teilnehmer kamen zur 7. Euroforum-Jahrestagung „Trends in der Nutzfahrzeug-Industrie“ Anfang März in MünchenGut gelaunt Großes gefordert: Contis Reifen-Mannen Cord Haller, Hans-Bernd Korte und Alfredo Marte Escarda (v. l.) Zukunft des Nutzfahrzeugs

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