Paris. In den nächsten 25 Jahren hätte Frankreich rund 245 Milliarden Euro aufbringen müssen, um die Ziele des unter dem letzten Staatspräsidenten Sarkozy verabschiedeten Verkehrsstrukturprogramms SNIT (Schéma national des infrastructures de transport) umzusetzen. Gleich nach seinem Amtsantritt beauftragte der jetzige Verkehrsminister Frédéric Cuvillier eine gemischte Parlamentarier- und Expertenkommission, diese Vorgabe zu überprüfen und der Realität anzupassen. Die seither eingetretene Krise und der dem Land von Brüssel auferlegte massive Zwang zur Entschuldung und Sanierung der Staatsfinanzen hat die Ausgangslage verändert. Ende letzter Woche hat die Arbeitsgruppe Ergebnisse vorgelegt. Darin werden eine radikale Neuorientierung und der Verzicht auf alle hochfahrenden, als illusorisch qualifizierten Blütenträume der vergangenen Jahre gefordert und eine den Realitäten angepasste Prioritätenliste erstellt.
Abkehr von bisheriger Bahnpolitik
Das, was die Bürger sowie Regional- und Lokalpolitik am meisten berührt, ist die empfohlene Abkehr von der bisher praktizierten Bahnstrategie der quasi alleinigen Ausrichtung auf den weiteren Ausbau des Netzes für den Hochgeschwindigkeitszug TGV und entsprechende neue Linien. Stattdessen soll die Mobilität im Nahverkehrsbereich gefördert werden. Lediglich die zwischen Bordeaux und Toulouse geplante Linie empfiehlt der Bericht beizubehalten und bis 2030 fertigzustellen. Alle anderen Projekte in dieser Richtung werden ad acta gelegt oder auf unbestimmte Zeit verschoben.
Im Bahnbereich insgesamt plädieren die Autoren für eine Revision des bisher nominell verfolgten Entwicklungsmodells. Er sei gekennzeichnet von finanziellen Ungleichgewichten, strukturellen Schwächen im Frachtsektor, mangelndem Nachdenken über mögliche Alternativen zum TGV und ungenügender Beachtung diverser Nadelöhre im Bahnnetz, die jetzt schon das Funktionieren des Gesamtsystems beeinträchtigten.
Die Kommission gibt etwas mehr als 20 Empfehlungen und skizziert für deren Realisierung 4 Hauptachsen: Schaffung einer Qualitätsgarantie für die Nutzer der Verkehrsinfrastruktur, Erhöhung der Servicequalität im Transportbereich, Leistungsverbesserungen im Bahnsektor und neue Finanzierungs- und Lenkungsmechanismen für den gesamten Verkehrsbereich.
Praktiziert werden soll die zukünftige Verkehrspolitik in drei zeitlich unterschiedlich fixierten Dringlichkeitsstufen. Die erste umfasst die Jahre zwischen 2014 und 2030, in die zweite fallen Vorhaben, die zwischen 2030 und 2050 realisiert werden sollen und auf „weiter liegende Horizonte“ verweist der Rapport Pläne, die das Land erst ab 2050 in Angriff nehmen könne.
Autobahnausbau zählt nicht zu den dringenden Projekten
Zu den als weniger dringlich angesehenen oder auf sehr viel später verschobenen Infrastrukturmaßnahmen gehört unter anderem auch der weitere Autobahnausbau. Einzige Ausnahme: die „Route Centre Europe Atlantique“ (RCEA) zwischen den Departements Allier im Zentrum des Landes Saône-et-Loire im Burgund und Beaujolais im Ostteil Frankreichs.
Von der Generalvorgabe im Umweltprogramm „Grenelle de l’environnement“ und seiner Ausrichtung auf die Förderung alternativer Verkehrsträger zur Straße macht der Bericht keine Abstriche. So sollen die Verbindungen zwischen den Seehäfen und dem Hinterland noch vor 2030 verbessert werden, und zwar durch den Bau einer weiteren Frachtachse zwischen Le Havre und Paris zur Entlastung der bereits vorhandenen Verbindung sowie die Realisierung der Pläne für die A56 zwischen Marseille-Fos und Salon-de-Provence und den Bau einer Umgehung von Fos. Hiermit wollen die Autoren den Mittelmeerhafen Marseille besser an das Binnenland und auch intermodale Transportwege anbinden.
Zwar soll auch der Gütertransport per Binnenschiff verstärkt werden, genießt aber keine besonders hohe Dringlichkeit, und ein Großprojekt wie die Schaffung einer Flussverbindung zwischen dem Mittelmeer und Nord- und Zentraleuropa über die Saône und die Mosel respektive den Rhein wird auf nach 2050 verschoben.
Mammutprojekte mit internationalem Vertragshintergrund hat der Bericht nicht berücksichtigt. Die geplante Hochgeschwindigkeitsverbindung zwischen Lyon und Turin falle ebenso wenig in ihre Ermessensparameter wie das Kanalbauvorhaben Seine-Nordeuropa zur Anbindung des Pariser Beckens an die Wasserwege und Häfen der nördlich gelegenen Nachbarländer, heißt es in dem Rapport „Mobilité 21“. ( jb)