Gregor Gysi führt seit 2005 die Linksfraktion im Deutschen Bundestag. Der 1948 in Ost-Berlin geborene Politiker arbeitete als einer der wenigen freien Rechtsanwälte in der DDR. Im November 1989 wurde das SED-Mitglied durch eine Rede vor 500.000 Menschen einer breiten Öffentlichkeit erstmals bekannt. Nicht zuletzt wegen seiner rhetorischen Fähigkeiten wählte ihn der Parteitag am 9. Dezember 1989 zum Vorsitzenden der SED (später PDS).
Herr Gysi, wie haben Sie das Jahr 1990 und die Deutsche Einheit erlebt?
Es war ein sehr spannendes Jahr. Ich war das erste Mal in meinem Leben Mitglied in einem Parlament. Es ging um viele große Fragen.
Welche waren dies?
Zum Beispiel, wie die Deutsche Einheit zustande kommt. Durch eine neue gesamtdeutsche Verfassung oder, so wie es dann kam, durch den Beitritt der ostdeutschen Länder zum Geltungsbereich des Grundgesetzes.
Was war aus wirtschaftlicher Sicht die wichtigste Frage?
Für mich der Punkt, wie im Rahmen der Währungsunion die DDR-Unternehmen in die Marktwirtschaft geführt werden. Die PDS hatte vorgeschlagen, die Lohnkosten der Ostunternehmen zu bezuschussen. Diese Unterstützung sollte degressiv sinken und nach zehn Jahren beendet werden. So hätten die DDR-Betriebe eine Chance gehabt, sich am Markt zu bewähren und ihre Produkte und Produktionsverfahren anzupassen. Entschieden hat sich die Volkskammer dann für die Treuhand, die alle staatlichen Betriebe übernahm und dann verkaufte oder abwickelte.
Wie beurteilen Sie die Arbeit der Treuhand?
Die Treuhand bekommt von mir keinen Orden. Ihre Aufgabe war sicherlich nicht einfach, in der Summe bleibt aber der Eindruck, dass viele Entscheidungen willkürlich getroffen wurden. Nicht selten haben westdeutsche Unternehmen unter Duldung der Treuhand unliebsame Wettbewerber aus dem Weg geräumt. Dies belegen zwei Zahlen: DDR-Betriebe, die von westdeutschen Unternehmen gekauft wurden, sind zu 80 Prozent Pleite gegangen. Bei Betrieben, in die ausländische Unternehmen investierten, schafften nur 20 Prozent nicht den Weg in die Marktwirtschaft. Es bleibt aber auch festzuhalten, dass sich viele westdeutsche Unternehmer sehr viel Mühe im Osten gegeben haben.
Wirtschaft und Infrastruktur der DDR galten aus Sicht des Westens als marode und wenig leistungsfähig? War dies tatsächlich so?
Ja, die Produktivität der DDR lag 40 Prozent unter die der BRD. Es gab keine Effizienz. Es war eine Mangelwirtschaft. Das hat viele Menschen verständlicherweise genervt. Wirtschaft und Infrastruktur waren in keinem guten Zustand.
Im Rahmen der deutschen Einheit wurden viele Verkehrswege erneuert. Ein Erfolg?
Ja, die Entwicklung der Infrastruktur im Osten ist geradezu fantastisch. Telefonnetz, Fernstraßen und Gebäude wurden im Zuge der deutschen Einheit auf einen hervorragenden Stand gebracht. Geärgert hat mich aber die Stilllegung vieler Schienentrassen. Die DDR besaß das weitest verzweigte Eisenbahnnetz Europas. Dies hätte der Staat erhalten müssen, auch wenn man es nicht sofort nach der Einheit nutzen konnte. Hier wurde zu kurzfristig gedacht.
Ist heute nach 25 Jahren die Deutsche Einheit aus wirtschaftlicher Sicht vollendet?
Nein, die wirtschaftliche Einheit ist noch nicht vollzogen. Der Exportanteil im Osten ist im Vergleich zum Wesen immer noch viel zu gering.
Was muss hier getan werden, um die Einheit herbeizuführen?
Es sind einige Rechtsvorschriften zu ändern. Kommunen müssen bei öffentlichen Ausschreibungen regionale Betriebe bevorzugen dürfen, zum Beispiel dadurch, dass diese bis zu zehn Prozent teurer sein dürfen. Außerdem muss das Steuerrecht verändert werden. Unternehmen haben dort Steuern zu zahlen, wo die Wertschöpfung stattfindet und nicht irgendwo in Europa in einer Steueroase. Auch der Wettbewerb der Kommunen um Betriebe durch ein Absenken der Gewerbesteuer muss beendet werden.
War die Deutsche Einheit ein Fehler?
Nein, der Staatssozialismus der DDR war zu Recht gescheitert und zwei getrennte, kapitalistische deutsche Staaten zu erhalten, war nicht sinnvoll. Mein Ziel bleibt es aber, Deutschland zu verändern und einen demokratischen Sozialismus zu etablieren. Auch hier spielen private mittelständische Unternehmen eine wichtige Rolle, nur die großen Konzerne und Banken sind mir viel zu mächtig, das muss korrigiert werden.
Interview Andre Kranke