Die Kurve in der Energiewende kriegen

"Fokussiere all deine Energie nicht auf das Bekämpfen des Alten, sondern auf das Erschaffen des Neuen." Diese dem griechischen Philosophen Sokrates zugeschriebene Aussage gilt auch für den Weg, den wir eingeschlagen haben: Deutschland baut sein Energiesystem nachhaltig um. Das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) trägt mit seinen im KIT-Zentrum "Energie" gebündelten Aktivitäten dazu bei, eine sichere, zuverlässige, bezahlbare und klimafreundliche Energieversorgung zu verwirklichen. Umbau des Energiesystems Das Bewusstsein für eine ressourcen- und klimaschonende Energieversorgung reicht in Deutschland mehrere Jahrzehnte bis in die 1970er-Jahre zurück. 2011 beschloss die Bundesregierung die Energiewende. Im April 2023 endete die Nutzung der Kernenergie. Fossile Energieträger wie Erdöl, Erdgas und Kohle, werden kontinuierlich durch erneuerbare Energien ersetzt - besonders Solarenergie, Windkraft, Biomasse und Erdwärme. So wird das Energiesystem defossilisiert. Die Energiewende schließt auch die Steigerung der Energieeffizienz sowie die Verwirklichung neuer Speicherkonzepte, intelligenter Netze und dezentraler Strukturen mit ein. Von einer sicheren, zuverlässigen und bezahlbaren Energieversorgung hängt unser Wohlstand ab. Erneuerbare Energien reduzieren überdies die Abhängigkeit von Importen. Ein nachhaltiges Energiesystem basiert nicht nur auf Strom aus erneuerbaren Energien, sondern auch auf Wärme sowie chemischen Energieträgern aus regenerativen Quellen. Der Umbau erstreckt sich über alle Bereiche: Gebäude und Haushalte, Industrie und Dienstleistungen, Mobilität und Transport. Eine besondere Bedeutung kommt der Kopplung der Sektoren zu: Elektrizität, Heizung und Kühlung, Industrie und Verkehr werden mithilfe innovativer Technologien wie Wärmepumpen, Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen und Elektroautos miteinander verbunden, um den Energieverbrauch zu senken und die Versorgungssicherheit zu erhöhen. Energieversorgung in Deutschland Der Umbau des Energiesystems in Deutschland, besonders im Stromsektor, schreitet unaufhaltsam voran - das zeigt ein Blick auf den Strom-Mix im ersten Halbjahr 2023 im Vergleich zu den Daten des Gesamtjahres 2022 (siehe Grafiken Seite 9). Die Stromerzeugung aus konventionellen Energieträgern ist demnach um 12,2 Prozentpunkte zurückgegangen. Der Anteil erneuerbarer Energien an der Stromerzeugung ist auf 57,7 Prozent gestiegen. Wichtigste Energiequelle ist die Windkraft mit 29,8 Prozent vor der Kohle mit 27,2 Prozent. Drittstärkste Energiequelle ist die Photovoltaik mit 13,4 Prozent. Seit Mitte April 2023 wird in Deutschland kein Strom aus Kernkraft mehr erzeugt. Der Primär-Energieverbrauch in Deutschland 2022 - insgesamt 11.829 Peta Joule (PJ) oder 3285 Terrawattstunden (TWh) - ist allerdings noch von anderen Energieträgern dominiert. So hatten die einzelnen Energieträger 2022 folgende Anteile: Mineralöl 35,2 Prozent, Erdgas 23,8 Prozent, Braun- und Steinkohle 19,8 Prozent, erneuerbare Energien 17,2 Prozent, Kernenergie 3,2 Prozent, Sonstige 0,9 Prozent. Bei der Primärenergie handelt es sich um die aus natürlichen Quellen wie Kohle, Gas, Öl oder Sonne und Wind verfügbare Energie. Aus der Primärenergie werden Sekundär-Energieträger wie Strom, Heizöl und Benzin gewonnen. Energie- und Strombedarf für 2030 Wie sich der Strombedarf infolge der Elektrifizierung von Mobilität, Produktion und Heizung entwickeln wird, ist nicht leicht vorherzusagen. Die Bundesregierung prognostiziert einen Strombedarf von 750 TWh im Jahr 2030. Bei einem angestrebten Anteil von 80 Prozent erneuerbaren Energien an der Stromproduktion müssen im Jahr 2030 in Deutschland insgesamt rund 600 TWh Strom aus erneuerbaren Energien bereitgestellt werden. Um dieses Ziel zu erreichen, muss sich die aktuelle Ausbaugeschwindigkeit von Windkraft- und Solaranlagen verdreifachen. Der für 2030 prognostizierte Primär-Energieverbrauch liegt etwa auf dem heutigen Niveau. Die Steigerungen des Energiebedarfs in den kommenden Jahren müssen deshalb vollständig durch Effizienzmaßnahmen und Einsparungen ausgeglichen werden. Das kürzlich verabschiedete neue Gebäudeenergiegesetz zeigt beispielhaft, dass dies enorme Herausforderungen mit sich bringt. Zentrale Säule: Erneuerbare Energien Photovoltaik (PV) spielt eine entscheidende Rolle beim Umbau des Energiesystems. Besonders wichtig ist die großflächige Umsetzung dieser Technologie, sowohl auf Dachflächen als auch auf Freiflächen, um einen bedeutenden Anteil an erneuerbarem Strom zu erzeugen. Zudem gibt es vielversprechende neue Technologien wie Perowskit-Photovoltaik und organische Photovoltaik, mit denen sich Solarzellen deutlich kostengünstiger herstellen sowie Solarmodule flexibler einsetzen und optisch attraktiver gestalten lassen. Windenergie bildet eine weitere wichtige Säule der Energiewende. Um die gesteckten Ziele zu erreichen, müssen mehr und größere Windkraftanlagen schneller gebaut werden. Dies gilt sowohl für Onshore- als auch für Offshore-Windparks. Wasserkraft besitzt in Deutschland vergleichsweise wenig Ausbaupotenzial. Die bestehenden Wasserkraftanlagen sind bereits weitgehend ausgeschöpft. Biomasse stellt eine wichtige Energiequelle dar. Als erneuerbarer Brennstoff genutzt, birgt sie enorme Potenziale auch für den Ausgleich der fluktuierenden Stromerzeugung aus Wind und Sonne. Zudem kann sie eine wichtige Kohlenstoffquelle sein, wenn sie nachhaltig bewirtschaftet wird. Geothermie kann in der Zukunft eine Schlüsselrolle spielen, besonders für die Bereitstellung von Wärme. Sie lässt sich jedoch auch zur grundlastfähigen Stromerzeugung einsetzen. Herausforderungen und Lösungen Die regenerativen Quellen Sonne und Wind sind fluktuierend, das heißt, die Stromerzeugung schwankt abhängig von der Tageszeit, Jahreszeit und dem Wetter. Biomasse und Geothermie unterliegen diesen Schwankungen nicht. Der Flächenbedarf sowohl für Solar- wie auch für Windkraftanlagen ist groß. Die Effizienz von Anlagen für erneuerbare Energien hängt stark vom Standort ab. Dies kann die Nutzung einschränken, etwa in sonnenarmen und/oder windarmen Regionen, und führt dazu, dass Stromerzeugungs- und Stromnutzungsgebiet zuweilen weit voneinander entfernt sind. Obwohl die Kosten insgesamt stetig sinken, sind die anfänglichen Investitionen für Solar-, Windkraft- und Geothermie-Anlagen immer noch hoch. Wird Strom direkt vor Ort produziert und genutzt, kann das Transportkosten verringern. Zugleich stellen sogenannte Prosumer, das heißt Haushalte und Firmen, die Strom selbst erzeugen und nutzen, die Energieversorger vor neue Herausforderungen. Um zeitliche Fluktuationen auszugleichen und räumliche Entfernungen zu überbrücken, werden innovative Lösungen zur Speicherung wie zur Verteilung von Energie benötigt. Oft bedarf es einer Kombination verschiedener Speichertechnologien, um eine zuverlässige und bezahlbare Energieversorgung aus erneuerbaren Quellen zu gewährleisten. Chemische Speicher werden möglich durch Technologien wie Power-to-Gas und Power-to-Liquid, bei denen überschüssige erneuerbare Energie verwendet wird, um Wasserstoff oder synthetische Kraftstoffe herzustellen, die sich bei Bedarf wieder zur Stromerzeugung oder als Kraftstoff verwenden lassen. Allerdings wird Deutschland auch künftig große Mengen an Primärenergie importieren müssen - aus Europa oder auch von anderen Kontinenten, bei großen Entfernungen überwiegend grünen Wasserstoff oder dessen Derivate (Power to X). Um den importierten Anteil an Primärenergie möglichst gering zu halten, bedarf es auch in Deutschland flexibel arbeitender Power-to-X-Kapazitäten. Damit lassen sich die fluktuierenden erneuerbaren Energien sinnvoll nutzen und müssen nicht in Spitzen-Produktionszeiten abgeregelt werden. Elektrochemische Speicher, also Batterien, sind in verschiedenen Größen und Kapazitäten verfügbar, von kleinen Heimspeichern bis hin zu großen Anlagen für das Stromnetz. Lithium-Ionen-Batterien sind die am häufigsten verwendete Batterietechnologie für Energiespeicher. Als weitere Speichertechnologien stehen unter anderem thermische Speicher, Pumpspeicher-Kraftwerke und Druckluft-Speicher zur Wahl. Eine effiziente Verteilung stellt sicher, dass Strom zuverlässig und wirtschaftlich zu den Verbrauchern gelangt. Vor allem gilt es, die Übertragungsnetze aus Hochspannungsleitungen auszubauen, um elektrische Energie über große Entfernungen zwischen verschiedenen Regionen oder Ländern zu transportieren. Dezentrale Erzeuger wie PV-Anlagen, Windkraft-Anlagen oder Mikro-Kraftwerke lassen sich an Verteilnetze anschließen, um Strom an benachbarte Verbraucher zu liefern oder ins allgemeine Netz einzuspeisen. Eine zentrale Rolle kommt dabei sogenannten Smart Grids zu. Diese nutzen Sensoren, Informations- und Kommunikationssysteme sowie Datenanalyse, um die Effizienz und Zuverlässigkeit der Stromverteilung zu verbessern. Sie ermöglichen auch eine bessere Integration erneuerbarer Energien und die Steuerung von Verbrauchergeräten zur Optimierung des Energieverbrauchs. Auch der Stromhandel in Europa trägt zur Versorgungssicherheit bei, indem er zeit- und wetterbedingte Schwankungen ausgleicht und Redundanzen bereitstellt. Zudem ist auf eine effiziente Energienutzung zu achten. Bei all diesen Entwicklungen gilt es, die Bevölkerung durch Transparenz, Kommunikation auf nationaler, regionaler und kommunaler Ebene, Partizipation und wirtschaftliche Anreize einzubeziehen. Kern-Energie in der EU Die derzeit 100 Kernkraftwerke in zwölf der 27 EU-Mitgliedstaaten decken rund ein Viertel der in der gesamten EU erzeugten Elektrizität ab, wobei der Anteil am Grundlaststrom noch höher ist. Die Kernenergie liefert etwa die Hälfte des CO2-freien Stroms. Im europäischen Green Deal hat sich die Europäische Kommission verpflichtet, die Treibhausgas-Emissionen bis 2030 um 55 Prozent gegenüber 1990 zu senken und die EU bis 2050 klimaneutral zu machen. Das Programm REPowerEU zielt darauf, die Abhängigkeit von russischen fossilen Brennstoffen zu beenden, bis 2030 die Energieeffizienz zu steigern und den Anteil erneuerbarer Energien zu erhöhen. Der Net-Zero Industry Act schlägt Reformen des Elektrizitätsmarkts vor, um die Herstellung sauberer Technologien in der EU zu fördern. Unter "fortgeschrittene Technologien" nennt er kleine modulare Reaktoren (SMR) als eine der Technologien zur Defossilisierung. Während in Deutschland nicht geplant ist, Kernenergie wieder zu nutzen, beabsichtigen fünf Staaten in Europa - Frankreich, das Vereinigte Königreich, Tschechien, Finnland und Polen -, die Kernenergie verstärkt auszubauen, um ihre Klimaziele zu erreichen. Chancen des Wandels Die Energiewende in Deutschland bis 2030 bringt als komplexer transformativer Prozess vielfältige Herausforderungen und Chancen mit sich. So erfordert die Integration großer Mengen erneuerbarer Energie leistungsfähige Speichersysteme, den Ausbau und die Stabilisierung des Stromnetzes und flexible Verbrauchsmodelle. Um Strom, Wärme und Verkehr effizient zu koppeln, bedarf es neuer Technologien und Infrastrukturen wie Umstieg auf E-Mobilität und Nutzung von Wasserstoff. Die Investitionen sind erheblich; daher gilt es sicherzustellen, dass die Maßnahmen wirtschaftlich sinnvoll sind. Nicht zuletzt ist die Akzeptanz der Bevölkerung mit entscheidend, dass der Wandel gelingt. Deshalb sei nachdrücklich auf die Möglichkeiten hingewiesen, die dieser Wandel eröffnet: Deutschland kann eine führende Rolle bei der Entwicklung und Vermarktung der neuen Technologien einnehmen. Der Umbau des Energiesystems kann das Wirtschaftswachstum fördern, Arbeitsplätze schaffen und Start-ups begünstigen. Die Abkehr von importierten fossilen Brennstoffen erhöht die Energieunabhängigkeit. Zudem kann Deutschland Expertise exportieren und international als Vorbild für nachhaltige Energiepolitik dienen. Technologien können und müssen sich kontinuierlich weiterentwickeln, daher werden Forschung und Entwicklung auch nach 2030 gefragt sein. Der Weg lohnt sich - gehen wir ihn gemeinsam!

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