"Das ist wie Krieg"

Seit mehr als 15 Jahren versuchen Migranten aus Afrika und dem Nahen Osten, versteckt in Lkw über Calais nach Großbritannien zu gelangen. So schlimm wie derzeit war das Flüchtlingsproblem am Ärmelkanal aber noch nie. Die Situation habe sich seit diesem Frühjahr drastisch verschlechtert, sagt Horst Kottmeyer. Er ist Geschäftsführer der Spedition Kottmeyer aus Bad Oeynhausen in Ostwestfalen. Das Unternehmen befördert täglich mehrere Teil- und Komplettladungen von Deutschland nach England und Irland. Die Mitfahrversuche der Flüchtlinge würden immer verzweifelter, berichtet er. "Am helllichten Tag probieren ganze Gruppen, die Lkw zu entern", beschreibt Kottmeyer die Lage an Fährhafen und Eurotunnel. Verschärft würde sie durch Rückstaus auf den Zufahrtsstraßen zu den Terminals, weil das Transportaufkommen hoch sei. Vor der Zollabfertigung stünden die Fahrzeuge kilometerweit auf den Autobahnen. In jüngster Zeit würden Fahrer sogar bedroht, wenn sie sich gegen ein Eindringen auf die Ladeflächen wehren. Kottmeyer weiß von Fällen, in denen Lkw mit Steinen beworfen oder die Reifen aufgeschlitzt wurden. Einige junge Männer seien zudem mit Messern oder Eisenstangen bewaffnet. "Unsere Leute erzählen: Das ist wie Krieg", berichtet Kottmeyer. Nicht wenige Fahrer fürchten um Leib und Leben und weigern sich, weiterhin Englandtouren zu übernehmen. "Viele greifen inzwischen nicht mehr ein, wenn sie bemerken, dass jemand versucht, sich im Lkw zu verstecken, sondern verriegeln die Türen", sagt Kottmeyer. Er glaubt, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis die angespannte Lage in der 73.000-Einwohner-Stadt eskaliert. Es stranden immer mehr Flüchtlinge Zwischen 2500 und 3000 illegale Einwanderer halten sich schätzungsweise mittlerweile in Calais auf. Mehrere Hundert lauern rund um die Uhr an den Leitplanken der Autobahnen auf eine Mitfahrgelegenheit. Sie stammen aus Krisenländern wie Afghanistan, Eritrea, Äthiopien, Syrien und dem Sudan. Mitunter hausen sie monatelang in improvisierten Lagern, die immer wieder von der Polizei geräumt werden. Die meisten sind davon überzeugt, dass es in Großbritannien einfacher ist, Asyl zu beantragen und an Arbeit zu kommen. Viele haben Freunde oder Familie auf der anderen Seite des Ärmelkanals, sprechen ein paar Brocken Englisch und sie wissen, dass es auf der Insel bislang weder eine Melde- noch eine Ausweispflicht gibt. Dadurch kann man dort leichter untertauchen als anderswo. Mit Hunden, Herzschlagdetektoren, Röntgengeräten und Atemluftscannern machen die Behörden auf beiden Seiten der 48 Kilometer breiten Meerenge zwischen Calais und Dover Jagd auf die blinden Passagiere. Seit 1. Januar 2015 sind mehr als 18.000 in der nordfranzösischen Hafenstadt entdeckt worden - doppelt so viele wie im vergangenen Jahr und vier Mal mehr als 2013. Diejenigen, die abgefangen werden, werden gewöhnlich kurzzeitig festgesetzt und dann wieder freigelassen. Kurz darauf versuchen sie es erneut: Ein Katz-und-Maus-Spiel, bei dem die unterbesetzte französische Grenzpolizei oft machtlos ist. Denn die Migranten sind schnell und sehr geschickt. "Einer unser Fahrer hat gefilmt, wie innerhalb von 15 Sekunden fünf Leute auf den Trailer des Kollegen vor ihm geklettert sind", berichtet Kottmeyer. Grenzschützer greifen hart durch Die Mitarbeiter des British Immigration Service und der UK-Border Force haben die vorgezogenen Grenzkontrollen auf französischem Boden deshalb zuletzt massiv verschärft. "Wenn sie einen blinden Passagier finden, dann werden Fahrer und Transportunternehmen rechtlich wegen Menschenschmuggels als Schlepperbanden belangt", erklärt Kottmeyer. Sie müssen mit Bußgeldern mit bis zu 2000 Pfund pro Nase rechnen. Die Strafzahlungen sind fällig, wenn die Verantwortlichen gegenüber den Grenzschützern nicht nachweisen können, alle notwendigen Maßnahmen getroffen zu haben, um ein Eindringen der Flüchtlinge zu verhindern. "Eine Unschuldsvermutung sieht das britische Gesetz nicht vor", erklärt Kottmeyer. Güterverkehrsverbände raten deshalb, sich unbedingt an den "Code of Practice" des britischen Innenministeriums zu halten. Mit dieser Richtlinie werden Fahrern Verhaltensregeln an die Hand gegeben, um illegalen Einwanderern den Zugang zum Lkw zu erschweren. Gemäß britischem Gesetz seien Lkw-Lenker verpflichtet, ihre Fahrzeuge zu sichern, Kontrollen am und im Fahrzeug vorzunehmen und dafür zu sorgen, dass alles in Ordnung ist, erklärt Helmut Große aus dem Referat internationaler Straßengüterverkehr im Deutschen Speditions- und Logistikverband (DSLV). "Hierüber sind Aufzeichnungen anhand von Checklisten zu machen", erklärt er. Ein gewisses Restrisiko bleibt trotzdem Um das Risiko bei Touren über den Ärmelkanal zu reduzieren, hat sich die Spedition Kottmeyer von Home Office in London als sicheres Unternehmen zertifizieren lassen. Zudem führe man mit Home Office abgestimmte Checklisten, um nachzuweisen, dass die Lkw wie vorgeschrieben gesichert sind und schule die Fahrer regelmäßig in Sicherheitsfragen, so der Geschäftsführer. "Sie sind angewiesen, hinter Antwerpen nicht mehr anzuhalten." Zusätzlich lässt Kottmeyer seine Fahrzeuge von den Sicherheitskräften des Eurotunnels untersuchen. Bei aller Vorsicht lassen sich blinde Passagiere dennoch nicht komplett ausschließen. Der DSLV mahnt, dass weder das Vorhandensein einer Checkliste als Bestandteil eines funktionierenden Sicherheitssystems noch die Durchführung von CO2-Checks, die von den meisten Fährgesellschaften angeboten werden, eine hundertprozentige Sicherheit gegen die Verhängung von Bußgeldern darstellen. Daher empfiehlt Große, nochmals eine Kontrolle von Lkw und Anhängern vorzunehmen, wenn das Fahrzeug nach dem durchgeführten Test länger auf die Fähre warten musste. Diese sollte sich nicht allein auf eine Sichtkontrolle beschränken. Die Unversehrtheit von Zollschnüren, Plomben und Vorhängeschlössern sollten die Fahrer durch Rütteln und gegebenenfalls Aufschließen überprüfen. Ein weiterer neuralgischer Schwachpunkt ist das Dach der Fahrzeuge und Aufbauten. Viele Illegale steigen hier ein. Einige Fährgesellschaften bieten dazu bereits einen Spiegeltest an, der auch bestätigt wird. Auch Uwe Fischer hat die Erfahrung gemacht, dass der Nachweis der erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen mitunter nutzlos ist. "Wir fahren durch die Röntgenkontrolle, absolvieren CO2-Checks, durchleuchten die Lkw vom Dach bis unter die Achsen und führen akribisch Buch darüber - trotzdem können wir uns nicht richtig vor horrenden Bußgeldern und Fahrzeug-Stilllegungen schützen", betont der Disponent des Transportunternehmens Buchart in Titisee-Neustadt bei Freiburg. Das Familienunternehmen befördert ausschließlich Güter von Deutschland nach Großbritannien. 21 Sattelzugmaschinen mit Maschinen oder Papier unter der Plane sind jede Woche auf dieser Route unterwegs. Selbst wenn sichergestellt sei, dass man ohne blinden Passagier auf die Fähre in Calais rollt, sei noch nicht gewährleistet, dass man diese auch ohne blinden Passagier in Dover verlasse. "Die Lkw stehen dicht an dicht und die Fahrer dürfen während der Überfahrt nicht unter Deck bleiben - da bemerkt niemand, wenn sich Fremde am Fahrzeug zu schaffen machen", sagt er. Vor dem Anlegen des Schiffs in England gebe es für die Fahrer schlichtweg zu wenig Platz, um die Türen des Laderaums zu öffnen und nachzusehen. Alternativen zu Calais gibt es aus Sicht von Fischer nicht. Im 50 Kilometer entfernten Fährhafen von Dünkirchen sei die Situation ähnlich brenzlig. "Und die Verbindungen von Zeebrügge nach Dover und Canterbury sind eingestellt worden." Einzig nach Kingston upon Hull an der englischen Ostküste gebe es von dem belgischen Fährhafen aus eine Möglichkeit. "Diese Fähre legt aber nur zweimal am Tag ab und ist teuer", so Fischer. Diesen Umweg könne sich das mittelständische Familienunternehmen nicht leisten. Transporteur fühlt sich im Stich gelassen Fischer beklagt, dass die Transportunternehmer am Ärmelkanal von der Politik im Stich gelassen werden. "Die Güterverkehrsbranche muss für die unzureichende Asylpolitik der Europäischen Union bezahlen", betont er. "Wenn die deutschen Transportunternehmer das wenige, was sie mit der Beförderung von Gütern verdienen, nicht nur gegen die osteuropäische Billigkonkurrenz verteidigen müssen, sondern auch noch in Westeuropa das Geschäft ausgebremst wird, dann können einige irgendwann den Laden dichtmachen", sagt Fischer. Kottmeyer ergänzt frustriert: "Solange Großbritannien nicht seine Einwanderungspolitik ändert, bleibt das Flüchtlingsproblem in Calais bestehen." Die finanziellen Einbußen im Großbritannien-Geschäft aufgrund der Flüchtlingsprobleme in Calais beziffert er auf mindestens 1000 Euro am Tag. Sie entstehen zum einen durch Schäden an der Ladung, die teilweise von den Illegalen aus dem Lkw geworfen oder durch Exkremente verschmutzt wird. "Verbeulte oder zerkratzte Güter nehmen die meisten Empfänger nicht an", erklärt der Geschäftsführer. Zum anderen summieren sich die Fahrzeugschäden. "Am Wochenende schweißen wir derzeit fleißig Planen", so Kottmeyer. Hinzu kommen Frachtausfälle wegen Verspätungen aufgrund der umfangreicheren Kontrollen an den Terminals. Diese Probleme seien den Empfängern aber häufig egal. "Viele pochen auf Schadensersatz oder lassen einen an der Rampe warten." Politische Lösung lässt auf sich warten Immerhin: Die britische Regierung will auf einen Drei-Jahres-Zeitraum verteilt umgerechnet rund 15 Millionen Euro in Calais investieren, um die Zahl derer, die den Ärmelkanal überqueren, weiter zu verringern. Das Geld soll etwa in bessere Zäune und mehr Sicherheitspersonal auf den Parkplätzen am Hafen fließen. Der Bundesverband Güterkraftverkehr, Logistik und Entsorgung (BGL) hat indes das Auswärtige Amt und das Bundesverkehrsministerium auf die angespannte Situation in Calais hingewiesen. Beide wurden gebeten, Schritte einzuleiten, um gemeinsam mit den Auslandsvertretungen der Bundesrepublik Deutschland alles zu unternehmen, damit die körperliche Unversehrtheit der Fahrer gewährleistet und das Eigentum der Unternehmen wirksam geschützt wird. Die deutschen Botschaften in London und Paris stünden diesbezüglich bereits mit den zuständigen französischen beziehungsweise britischen Behörden in Verbindung, erklärt das Auswärtige Amt auf Anfrage. Die Bundesregierung arbeite darüber hinaus eng mit der Europäischen Kommission zusammen, um rasch Antworten auf die wachsenden Flüchtlingsbewegungen zu finden. Facebook-Kommentare: Das berichten Lkw-Fahrer aus Calais Patrick S.: "Im Moment geht in Calais die Post ab. Der Lkw muss echt gesichert werden wie ein Goldbarren."Adi W.: "Ich hatte auf dem Weg nach Großbritannien schon mehrmals Flüchtlinge im Lkw. Das sind richtig organisierte Banden. Einmal sind sie über das Dach eingestiegen. Aufgeschnitten und von innen mit Klebeband verklebt. Bei der Ausfahrt aus den Hafen Dover haben die britischen Behörden die blinden Passagiere auf meinem LKW gefunden. Ich hatte mächtige Probleme: Bußgeld und Ankündigung einer Gefängnisstrafe wegen illegalen Menschenhandels."Matthias B.: "Jeder sollte seine letzte Pause in Brüssel machen. Und von dort aus am besten nonstop bis in den Fährhafen Calais. Nicht mal zum Pinkeln anhalten!"Stefanie E.: "Wir dürfen ab Brüssel bis zur Fähre nicht mehr halten. Vorher stehen wir auf Sicherheitsparkplätzen und an den Trailer kommt ein Schloss plus Zollseil."Thomas S.: "Wenn man bedenkt, dass man für jeden blinden Passagier 2500 Euro Strafe zahlt, wünsche ich mir etwas mehr Einsatz von der Polizei in Calais."Thomas S.: "Letzte Woche hatte ein Kollege unbemerkt zwölf Asylanten im Lkw: 30.000 Euro Strafe. Der kann sich die Kugel geben."Nickos A.: "Ich habe auf englischer Seite mal festgestellt, dass ich drei Flüchtlinge auf dem Lkw hatte. Deshalb habe ich die Polizei angerufen und dank CO2-Stempel vom Eurotunnel-Betreiber keine Probleme gehabt."Thomas F.: "Immer den Sicherheitscheck durch die französischen Behörden machen und abstempeln lassen! Wenn möglich, bei den britischen Behörden in Calais noch mal."Michael K.: "Ich fahre bei einer englischen Firma. Wir haben extra Laufzettel und verplomben die Fahrzeuge. Beides schützt zwar nicht vor Strafen, schreckt aber die Migranten ab."Christian H.: "Mir wurden die Europaletten aus dem Staukasten geräumt. Bei der Abfahrtskontrolle habe ich 15 Flüchtlinge darin gefunden. Sie wurden aggressiv, als ich sie rausgeworfen und mit der Polizei gedroht habe."Uwe B.: "Das Parken in Calais ist sehr gefährlich geworden. Die Flüchtlinge zerschlagen die Scheiben und rauben die Lkw aus."Ute H.: "Ich hatte auch schon fünf Leute auf dem Lkw. 60 Kilometer vor Calais von Paris kommend ist das gewesen. Ich war nur zwei Minuten auf dem Klo und das Fahrzeug stand direkt an der Tanksäule. Der Tankwart hat den Mitfahrversuch zum Glück über die Kamera gesehen und die Polizei gerufen."Michael W.: "Ich hatte sogar schon drei Mal Illegale auf dem Auflieger, als ich nach Großbritannien unterwegs war. Zum Glück wurden die in Calais entdeckt und rausgeholt. In England hätte ich ein massives Problem gehabt."Robin T.: "Das kann so nicht weitergehen."

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