Auf der Rüttelstrecke

Januar 1991: 22 Jahre lang hat Heiko Zimmermann in einem Werk gearbeitet, das Signaltechnik für die DDR-Reichsbahn herstellt, zuletzt als Chef von Fuhrpark und Lager. Doch plötzlich ist die Wende da und der Betrieb wird an Siemens verkauft - ohne die Logistikabteilung. Die 21 Mitarbeiter haben nur noch zwei Optionen: Entweder die Sache selbst in die Hand nehmen oder arbeitslos werden. Manche riskierten Haus und Hof Zimmermann setzt alles auf eine Karte: Er verpfändet sein Haus, nimmt einen Kredit auf und macht aus seiner ehemaligen Abteilung sein eigenes Unternehmen - die Spedition Heiko Zimmermann. "Ich bin volles Risiko gefahren", erinnert sich der heute 64-Jährige. Der Mut zahlt sich aus: Das Geschäft läuft gut an und die Zahl der Mitarbeiter steigt schnell von 21 auf 50. Solche Geschichten haben sich zu Wendezeiten in der DDR oft abgespielt. Ehemalige Transportbetriebe wurden von Westdeutschen aufgekauft oder von den eigenen Mitarbeitern übernommen. "Insgesamt gehörte der Kraftverkehr zu den interessantesten Sparten", erinnert sich Frank Bieletzki, zwischen 1990 und 1992 Abteilungsleiter bei der Treuhand. 120 Privatisierungsprojekte hat der heutige Interimmanager begleitet. Doch am Schluss entpuppte sich die Privatisierung der DDR-Logistikbranche als Rüttelstrecke. West-Logistiker interessierten sich damals aus mehreren Gründen für ehemalige DDR-Betriebe: Zum einen wollten sie im Osten möglichst schnell ein Standbein aufbauen, zum anderen besaßen die Ost-Betriebe wertvolle Konzessionen. Der Hintergrund: In den 1990er-Jahren war der Güterverkehr in der Bundesrepublik stark reguliert. Wer Transportleistungen anbieten wollte, brauchte eine Konzession. Ihre Zahl war beschränkt und die Erlaubnisse durften offiziell nicht gehandelt werden (unter der Hand wurden jedoch 50.000 bis 100.000 D-Mark gezahlt). Nach der Wende hatten ostdeutsche Fuhrunternehmen automatisch Konzessionen erhalten. Die Folge: Viele Westfirmen kauften sich ein, um an die Konzessionen zu kommen. Doch die Substanz der Branche entpuppte sich als schlecht. "Die Betriebsausstattung war einfach veraltet", erinnert sich Bieletzki. Das Durchschnittsalter der Flotten lag bei zwölf Jahren, lediglich die international tätige Deutrans verfügte über 3500 Lastzüge nach modernem Standard. Der Rest der Branche fuhr mit Uralt-Technik und improvisierte. Lob hat Bieletzki aus der Rückschau vor allem für das Personal: "Das waren noch echte Fahrer, die, wenn nötig, auch noch etwas reparieren konnten." Die Logistikbranche im Osten hatte ein völlig anderes Standing als im Westen. "Der Kraftverkehrsdirektor gehörte am jeweiligen Ort zur Hautevolee", berichtet Bieletzki. Kein Wunder, schließlich konnten diese Genossen viel ermöglichen - oder verhindern. Ein weiterer Unterschied zum Westen: Speditionen waren oft in der Innenstadt angesiedelt, weil man Gewerbegebiete auf der grünen Wiese nicht kannte. Das machte die Betriebe für Käufer attraktiv. "Treuhand? Kein Kommentar!" Die meisten verkaufsfähigen Transportbetriebe gingen an West-Logistiker, die ihren Kunden in die neuen Länder folgen wollten. In selteneren Fällen wurde der Betrieb von den eigenen Mitarbeitern übernommen, ein sogenanntes Management-Buy-Out (MBO). "Das passierte teils aus der Not heraus, teils gab es auch Betriebsleiter, die unternehmerisch dachten", erinnert sich Bieletzki. Die MBO scheiterten allerdings oft, weil es ihnen an Kapital fehlte oder die neuen Chefs zu weit gehende Arbeitsplatzgarantien abgegeben hatten. Genaue Statistiken existieren nicht, aber nur die wenigsten DDR-Fuhrunternehmer dürften die Neunzigerjahre überstanden haben. Deshalb ist es bis heute schwierig, Branchenveteranen zu finden, die über diese Zeit sprechen wollen. "Treuhand? Kein Kommentar!": Diese Reaktion ist selbst im Jahr 25 nach der Wiedervereinigung noch verbreitet - entweder weil die damaligen Firmenkäufer zu viel bezahlt haben und sich ärgern oder weil die Erinnerungen zu schmerzhaft sind. Typisch waren Situationen wie diese: Der Kaufinteressent aus dem Westen kommt und sagt "Ich übernehme 25 der 50 Mitarbeiter". Dann musste der Betriebsleiter - oft über Nacht - eine Liste der zu entlassenden Kollegen aufstellen. Eine Sozialauswahl fand nicht statt. Solche Fälle seien für die Betroffenen schlimm gewesen, räumt Bieletzki ein, "aber anders wäre es nicht gegangen in der kurzen Zeit". Insgesamt nimmt der Logistikprofi gute Erinnerungen aus seiner Treuhand-Zeit mit. "Das war eine wilde Goldgräberstimmung." Im Leben von Ost-Spediteur Zimmermann gab es noch einige Wenden. Zunächst liefen die Geschäfte gut, doch 1995 verlor er einen Großkunden und ging Pleite. Zimmermann gab dennoch nicht auf: Er gründete mit der H.Z. Logistik eine weitere Firma, die er 2007 seinen Kindern übergeben konnte. Heute leitet er einen Lagerbetrieb. Auf so viel Unternehmerenergie angesprochen, zuckt er nur die Achseln. "Ich habe einfach weitergemacht."

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