Erfolgsmodell LNG

Neu erfunden hat man bei Iveco die LNG-Technologie zwar nicht, aber ohne Frage wie kein anderer Hersteller dessen Einsatz im Lastwagen forciert. Den Lohn ihrer jahrelangen Überzeugungsarbeit beim Liquiefied Natural Gas (LNG), vorrangig begründet in der derzeitigen Mautbefreiung auf deutschen Straßen, ernten die Italiener aktuell: Bei knapp der Hälfte aller im vergangenen Jahr in Deutschland ausgelieferten S-Way entschieden sich die Kunden für das verflüssigte Erdgas als Antriebsquelle. Entsprechend zahlreich sind die LNG-Ivecos im Straßenbild anzutreffen - immer gut erkennbar an den runden Gastanks am unverkleideten Rahmen. Fast immer greifen die Kunden dabei zu der mit 460 PS und 2000 Newtonmeter Drehmoment stärksten LNG-Variante des Portfolios. Gasmotor mit größerem Hubraum Auch im Testfahrzeug sorgt besagter Reihensechszylinder mit der Bezeichnung "Cursor 13 NP" für Vortrieb, die bereits einen Hinweis auf die Herkunft des Motors verrät. Denn anders als bei den leistungsmäßig vergleichbaren Dieselmodellen mit 11,1 Litern Hubraum setzt Iveco hier auf mehr Volumen und rüstet seinen 12,9 Liter großen Cursor 13 (in der Dieselvariante 510 oder 570 PS stark) auf den Erdgaseinsatz um. Vereinfacht gesagt verpassen ihm die Turiner Ingenieure dafür einen veränderten Zylinderkopf mit Zündkerzen, damit das Aggregat nach dem Otto-Prinzip arbeiten kann, und ersetzen den VTG-Turbolader des Diesels durch ein Pendant mit feststehender Turbinen-Geometrie. Der Gas-Iveco arbeitet auffallend leise Den Unterschied zum Diesel bemerkt der Fahrer, sobald er den Start-Knopf im Cockpit gedrückt hat. Der Gas-Cursor klingt dumpfer als der vergleichbare Diesel, verwöhnt aber mit seidenweichem Lauf und vor allem leiser Geräuschkulisse. Zu der trägt zusätzlich die nochmals verbesserte Geräuschdämmung des S-Way bei. Im Vergleich zu den ersten Exemplaren der neuen Baureihe, die laut Hersteller noch dem Vorserienstand entsprachen, geht es in der "Active-Space"-Fernverkehrskabine dieses Testfahrzeugs deutlich leiser zu. Zweiter Unterschied: Der Gaser benötigt naturgemäß etwas höhere Drehzahlen, um unseren auf 24 Tonnen ausgeladenen Krone-Testauflieger ordentlich in Schwung zu bringen. Im Großen und Ganzen liegen beim LNG immer knapp 100 Touren mehr an als im vergleichbaren Diesel. In Zahlen bedeutet das in Verbindung mit der 3.36er-Hinterachse aber immer noch humane 1150/min bei Reisetempo 85. Für unseren Geschmack etwas zu viel des Guten präsentiert die Steuerungselektronik der unauffällig agierenden ZF-Traxon-Schaltbox allerdings an Steigungen. Rückschaltungen leitet sie meist erst bei 1050 Touren ein, wodurch sich das Drehzahlniveau auf knapp 1300 Touren erhöht. In diesem Bereich, bei dem knapp 350 PS an der Antriebsachse ankommen, mangelt es dem S-Way aber spürbar an Durchzug. Eine Anpower-Funktion bietet Iveco nicht Mit 32 Tonnen Gesamtgewicht wird der zehnte Gang an den Messbergen der VR-Test runde zwar nie fällig, früher eingeleitete Gangrückstufungen würden dem LNG-Iveco aber ein deutliches Plus an Souveränität bescheren. Linderung könnte bereits eine entsprechende Anpower-Funktion schaffen, bei der der GPS-Tempomat am Fuß der Steigung um ein paar km/h beschleunigt, um mehr Schwung mit in den Berg zu nehmen - die aber hat Iveco nicht vorgesehen. Was ebenfalls zum Tempoverlust am Berg beiträgt: Nach Rückschaltungen benötigt die Elektronik stets eine Gedenksekunde, bis der Cursor wieder seine volle Power den 32 Tonnen Gesamtgewicht entgegenstellen darf. Ein Makel, den der Hersteller aber schon bald mittels eines neuen Steuergeräts beseitigen will. Nachholbedarf an Assistenzsystemen Ebenfalls Nachholbedarf offenbart das nicht mal zwei Jahre alte Konzept des S-Way (egal ob als LNG oder Diesel) bei manchen Assistenzsystemen. Eine aktiv eingreifende Lenkung oder eine intelligente Abbiegehilfe bieten die Italiener (noch) nicht an, und auch eine konventionell ausgeführte Feststellbremse erachten wir längst als antiquiert. Dass Iveco am Arbeitsplatz nach wie vor auf digitale Anzeigen oder Bedienung per Touchscreen verzichtet, mag vielen ebenfalls altbacken anmuten, ein zwangsläufiger Nachteil entsteht dadurch nicht. Vielen Fahrern dürften die verbindlich rastenden Schalter an Armaturenbrett und Lenkrad sogar sympathischer sein als Digitales - auch weil sich das Bedienkonzept des S-Way selbst markenfremden Fahrern schnell erschließt. Trotzdem: Spätestens mit der Einführung der auf dem S-Way aufbauenden Elektromodelle von Nikola wird wahrscheinlich auch in den Innenräumen der Gas- und Dieselmodelle ein neues Bedienkonzept einziehen. Ungünstig: Weit vorstehendes Flap Vielleicht ändert Iveco in diesem Zusammenhang auch gleich das seitliche Flap? Dessen im zurückgeklappten Zustand weit vorstehende Nase im unteren Teil ragt nämlich nicht nur gefährlich weit in den Verkehrsraum, man läuft beim Auf- und Absatteln auch ständig Gefahr, sich an dem Teil zu stoßen. Und wo wir gerade beim Thema Kritik sind: Es ist löblich, dass Iveco dem S-Way serienmäßig zwei Außenstaufächer pro Seite spendiert, die Tatsache, dass man diese aber nicht gleichzeitig öffnen kann, weil sonst deren Deckel unschön gegeneinanderstoßen, sollte sich doch eigentlich mit wenig Aufwand ausmerzen lassen? Deutlicher Kostenvorteil für den LNG Ohne Frage wichtiger als solche Kleinigkeiten ist dem Fuhrparkverantwortlichen die Wirtschaftlichkeit, und in dieser Disziplin lässt der LNG seine dieselgetriebenen Artgenossen klar hinter sich: 21,88 kg/100 km LNG stellte das Testfahrzeug auf der genormten VR-Testrunde in Rechnung. Bei einem Nettopreis von 0,99 Euro am Testtag entstehen so 21,66 Euro pro 100 Kilometer und damit über sechs Euro weniger als ein dieselgetriebener S-Way 480 (siehe VR 44/2020) auf der gleichen Strecke mit dem gleichen Testauflieger auf der Sattelplatte verursachte (25,01 l/100 km; Dieselpreis: 1,12 Euro/l). Ungleich größer der Kostenvorteil bei der Maut: Nur beim Diesel-Sattelzug müssen 18,70 Euro pro 100 Autobahnkilometer in der Kalkulation berücksichtigt werden. Zu berücksichtigen ist im Gegenzug aber das höhere Gewicht der LNG-Zugmaschine - der Test-S-Way bringt stattliche 8,21 Tonnen auf die Waage. Gemäß der Herstellerempfehlung, den LNG nur bedingt im ständigen 40-Tonnen-Verkehr einzusetzen, dürfte das für viele Käufer aber eine untergeordnete Rolle spielen. Dafür umso mehr der Umstand, dass es die LNG-Technologie natürlich auch bei Iveco nicht zum Nulltarif gibt. Nach VR-Recherche sind für den 460er-LNG mindestens 37.000 Euro mehr bei der Anschaffung zu berappen als für einen vergleichbaren Diesel-S-Way. Dass sich dieser Mehrpreis im Alltag durch die wegfallenden Mautkosten und die günstigere Tankrechnung aber wohl wieder einfahren lässt, davon künden die zahlreichen S-Way mit runden Gastanks am Rahmen, die auf deutschen Straßen unterwegs sind. Mehr zum Thema unter #GasAntriebCNGLNG www.verkehrsrundschau-plus.de/hashtag In Kürze Neben dem hier getesteten S-Way NP 460 bietet Iveco auch eine um 60 PS schwächere LNG-Variante an, zu der die Kundschaft allerdings eher selten greift. Der NP 400 basiert auf dem Cursor 9 mit 8,7 Liter Hubraum und stellt sein maximales Drehmoment von 1700 Newtonmetern zwischen 1200-1575/min bereit. Technische Daten Motor Sechszylinder-Otto-Reihenmotor (Cursor 13 NP), Multipoint-Einspritzung, Turbolader mit starrer Geometrie und Wastegate, Euro 6d mit 3-Wege-Katalysator, Hubraum: 12.900 cm3, Leistung: 460 PS (338 kW) bei 1900/min, max. Drehmoment: 2000 Nm bei 1100/min Kraftübertragung Automatisiertes Schaltgetriebe „ZF-Traxon“ (12TX 2010 TO), synchronisiertes Dreigang-Grundgetriebe, Range- und Splitgruppe, 12 Vorwärtsgänge, 2 Rückwärtsgänge, Hinter-achs-Übersetzung: i = 3,36 ; elektro-pneumatisch betätigte Einscheiben-Trockenkupplung, 430 mm Durchmesser Fahrwerk HA: einfach untersetzte 11,5-t-Antriebsachse (MS 17X); Vierbalg-Luftfeder mit Stabilisator, VA: 7,5-t-Starrachse, Einblatt-Parabelfeder, Teleskopstoßdämpfer, Stabilisator Bremsen elektronisch geregelte Zweikreis-Druckluftbremsanlage, Scheibenbremsen, hydrodynamischer Intarder Maße & Gewichte Radstand: 3800 mm; L x B x H: 6252 x 2550 x 3829 mm; Leergewicht: 8210 kg (ohne Fahrer, mit vollen Tanks), LNG-Tanks: 2 x 540 l Bewertung Iveco S-Way NP 460 LNG Motor/Antrieb (max. 140) 118 Getriebe/Kupplung (max. 140) 116 Bremsen (max. 120) 102 Lenkung (max. 40) 31 Pedale (max. 20) 16 Fahrverhalten (max. 60) 54 Sicht (max. 50) 40 Klima/Lüftung (max. 50) 41 Sitze (max. 40) 32 Armaturen/Instrumente (max. 50) 42 Scheibenwischer (max. 30) 24 Fahrerhaus (max. 240) 197 Gesamtwertung (max. 980): 813 Testurteil + leiser und sehr kultivierter Erdgasmotor, ausreichende Fahrleistungen,niedrige Betriebskosten, gute Fahrwerks- und Lenkungsabstimmung - bezogen auf das Dieselmodell erhöhtes Leergewicht und Anschaffungspreis, konventionelle Feststellbremse, eingeschränkte Lenkradverstellung Verbräuche und Geschwindigkeiten: 342,8-km-Teststrecke kg/100 km km/h Autobahn Medium (40 t)A 9 Allershausen - A 93 Regensburg 19,92 82,68 Autobahn hügelig (40 t)A 3 Regensburg - Nürnberg 25,62 81,81 Autobahn Rolletappe (40 t)A 9 Nürnberg -Langenbruck 20,26 82,84 Landstraße (40 t)Langenbruck - Dasing 20,20 61,40 Autobahn leicht (40 t)A 8 Dasing - A 99 AS M-Ludwigsfeld 24,32 81,98 Durchschnitt 21,88 78,45 BergwertungAutobahn (Kindinger Berg, A9) Zeit: 3,42 min, Vmin 69 km/h, Gang: 11 bei 1200/min Fazit (Jan Burgdorf, Test-Redakteur) Die Kosten sprechen für sich Bei den Betriebskosten sticht der LNG-Iveco seine Dieselkollegen problemlos aus. Insofern setzen die Italiener mit ihrer Erdgastechnologie (derzeit) auf das richtige Pferd, wie der zunehmende Anteil der LNG-Lkw auf deutschen Straßen beweist. Für den Fahrer bedeutet der Umstieg vom Diesel keine Abstriche – sofern der Gas-S-Way artgerecht eingesetzt wird, sprich, die Beladung nur selten an der 40-Tonnen-Grenze kratzt. jan.burgdorf@springernature.com

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