Skepsis und Hoffnung

Deutschland als Aggressor. Dieses Bild und die damit verbundenen Ängste wurden in den Köpfen einiger Nachbarstaaten im Zuge der deutschen Einigung wieder zum Leben erweckt. Würde ein neues, erstarktes Deutschland wieder alte Pfade aggressiver Großmachtpolitik betreten? Insbesondere in Großbritannien, aber auch in Frankreich sorgten sich Medien, Bürger und Politik im Jahr 1990 um eine zu große politische und wirtschaftliche Dominanz der neuen Bundesrepublik. Frankreichs Staatspräsident François Mitterrand und die britische Premierministerin Margaret Thatcher äußerten sich mehrfach skeptisch und fürchteten, das europäische Gleichgewicht käme durch ein erstarktes Deutschland ins Wanken. Unterstützung für die deutschen Pläne kam von US-Präsident George Bush - verbunden aber mit der Vorgabe, dass das vereinigte Deutschland der NATO angehören solle. Letztlich entscheidend war jedoch das Zugeständnis der Sowjetunion, dass die Deutschen das Recht hätten, die Einheit anzustreben. Mit dem Zwei-plus-Vier-Vertrag wurde die Wiedervereinigung dann durch Großbritannien, Frankreich, die USA und die Sowjetunion besiegelt und die vollständige Souveränität der neuen Bundesrepublik hergestellt. Auch die Europäische Gemeinschaft spielte eine wichtige Rolle: Trotz eines Erweiterungsstopps stellten die EG und damit auch wichtige Staaten wie Italien die Weichen für eine Aufnahme der DDR in die Gemeinschaft. Hoffnung bei westeuropäischen Logistikern Während die Ökonomien der Osteuropäer mit dem revolutionärem Wandel zu kämpfen hatten, hofften die Logistiker in den westeuropäischen Nachbarländern auf neue Geschäfte - und auch Industrie und Handel freuten sich auf den neuen Absatzmarkt im erweiterten Deutschland (siehe Kästen "Frankreich", "Österreich", "Polen"). -Frankreich Der Wendepunktt für die Transportwirtschaft Die 1980er waren goldene Jahre für französische Transportunternehmen. Frankreichs Markt für Straßentransport war der zweitgrößte Europas. Das Land hatte rund 40.000 registrierte Lkw über sechs Tonnen. Natürlich war der Markt hart umkämpft, aber es gab Arbeit für alle und wir dachten, das würde immer so weiter gehen, sagt René Cordier, der damals Chef von drei Transportunternehmen mit ingesamt 200 Angestellten war. Frankreichs Transporteure sahen die deutsche Einheit wohlwollend und dachten, sie würde ihnen viele Vorteile bringen. Zum Beispiel, weil in Ostdeutschland die Nachfrage nach Lastwagen und Transportdiensten sehr hoch war. Für uns waren das rosige Aussichten, sagt auch Philippe Brossette, damals Abteilungsleiter bei Renault Trucks/Groupe Volvo. Wir bekamen Zugang zu einem größeren Markt. Außerdem sahen wir die Einheit als Gelegenheit, in Ostdeutschland Filialen aufzubauen und so von den niedrigen Löhnen dort zu profitieren. Doch es kam alles anders. Nur wenige französische Unternehmen eröffneten in Ostdeutschland Filialen. Und die niedrigen deutschen Löhne führten hauptsächlich dazu, dass die Deutschen die Franzosen unterboten. Die Lohnstückkosten jenseits der Grenze waren rund 30 Prozent niedriger als unsere auch, weil man dort einfach länger arbeitete, sagt Cordier. Die deutsche Einheit wurde so zum Wendepunkt in der Geschichte des französischen Straßentransportsektors. Sein Anteil am internationalen Markt ist seither stetig gesunken. Und die Wiedervereinigung war nur der Anfang. Mit der Osterweiterung der Europäischen Union bekamen weitere Länder wie Polen oder Tschechien Zugang zum europäischen Binnenmarkt mit noch niedrigeren Lohnstückkosten. Österreich Gute Stimmung angesichts neuer Märkte Nach 45 Jahren Bedrohung und Absperrung durch den Eisernen Vorhang war die Ostöffnung für uns ein wunderbarer, unerwarteter Befreiungsschlag, erinnert sich Heidegunde Senger-Weiss, Aufsichtsratsvorsitzende des Speditionsunternehmens Gebrüder Weiss. Für die österreichische Verkehrswirtschaft eröffneten sich neue Märkte und es galt, die neuen Nachbarn erst einmal kennenzulernen und ihre Situation nach der kommunistischen Herrschaft zu respektieren. Das war für uns Österreicher einfacher als für die Westdeutschen, von denen staatlich und privat erwartet wurde, dass sie den Aufbau der Verkehrsinfrastruktur und Investitionen in Logistik und Industrie betreiben. Im Zuge dieser Investitionen wurde manche benötigte Verkehrsinfrastrukturmaßnahme zwischen Deutschland und Österreich zurückgestellt. Dennoch: Die Stimmung in der österreichischen Verkehrswirtschaft war angesichts der neuen Chancen durch die neuen Märkte ausgezeichnet, so Senger-Weiss.Die Euphorie war groß. Die Solidarität und Anteilnahme in Europa war spürbar, als die ersten Ausreisewilligen über Ungarn und die Tschechoslowakei die österreichische Grenze passierten, blickt Alexander Klacska, Obmann der Bundessparte Transport und Verkehr in der Wirtschaftskammer Österreich, zurück. In den ersten Jahren nach 1990 kauften ostdeutsche Konsumenten nur noch westliche Produkte und mieden Ostwaren. Weil der Zusatzbedarf nicht vollständig durch eigene deutsche Produkte gedeckt werden konnte, profitier ten Nachbarländer wie Österreich. Es kam in den Jahren 1990/1991 zu einem Boom im Österreich-Handel mit Deutschland. Kein Wunder daher, dass Österreichs Exportwirtschaft von 1989 bis 2000 von drei auf knapp zwölf Milliarden Euro zulegte. Und das nicht zuletzt dank der deutschen Wiedervereinigung. jm