CMR-Rechtsstreit

CMR-Rechtsstreit Wer zuerst klagt, hat die Nase vorn Der Europäische Gerichtshof hat entschieden, dass eine negative Feststellungsklage in einem CMR-Rechtsstreit Vorrang vor einer Leistungsklage hat. Dies könnte die Abwicklung von Regressansprüchen verändern. Diese Entscheidung könnte die bisherige Rechtsprechung in Deutschland über den Haufen werfen: Vergangenen Dezember hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) ein Grundsatzurteil gefällt, das Vertragsstreitigkeiten bei grenzüberschreitenden Straßentransporten betrifft (Aktenzeichen: C-452/12). Tenor: Der Verlader oder Spediteur kann als Auftraggeber vor einem internationalen Gericht keine Leistungsklage mehr gegen den von ihm beauftragten Frachtführer erheben, wenn dieser in einem anderen Land in Europa bereits eine sogenannte negative Feststellungsklage erhoben hat. Eine negative Feststellungsklage dient dazu, sich gegen womöglich unberechtigte Ansprüche zur Wehr zu setzen. Zum Beispiel gegen Schadensersatzansprüche wegen eines Warenverlustes. In dem vorliegenden Fall ging es einem niederländischen Frachtführer darum, in seiner Heimat gerichtlich feststellen zu lassen, dass er für einen Ladungsdiebstahl nur beschränkt haftet. Nämlich mit 8,33 Sonderziehungsrechten für jedes fehlende Kilogramm des Rohgewichts des Gutes. Damit wollte der Frachtführer verhindern, dass ein Gericht in Deutschland später über den Regressanspruch seines Auftraggebers nach anderen Maßstäben entscheidet und ihn dazu verdonnert, den vollen Schaden in Höhe von 500.000 Euro zu begleichen. EU-Staaten legen CMR nicht gleich aus Auslöser des EuGH-Urteils ist die zum Teil recht unterschiedliche Auslegung des Übereinkommens über den Beförderungsvertrag im internationalen Straßengüterverkehr (CMR) in den insgesamt 56 Vertragsstaaten. „Zwar handelt es sich bei der CMR um eine Vereinbarung, die die Haftung des Frachtführers international vereinheitlichen soll“, sagt Hubert Valder, Justiziar des Deutschen Speditions- und Logistikverbandes (DSLV). Die Praxis sehe aber anders aus. Die Anwendung der CMR mache schon lange Probleme – vor allem die unterschiedliche Auslegung des Artikels 29 der CMR. Darin steht, dass der Frachtführer oder ein Erfüllungsgehilfe seine Haftung nicht ausschließen oder begrenzen kann, „wenn er den Schaden vorsätzlich oder durch ein ihm zur Last fallendes Verschulden verursacht hat, das nach dem Recht des angerufenen Gerichts dem Vorsatz gleichsteht“. Laut der deutschen Rechtsprechung liegt ein dem Vorsatz gleichstehendes Verschulden gemäß Paragraf 435 des Handelsgesetzbuches vor, wenn der Schaden leichtfertig und in dem Bewusstsein verursacht wurde, dass ein Schaden mit Wahrscheinlichkeit eintreten wird (grobe Fahrlässigkeit). Ein solches qualifiziertes Verschulden ist demnach zum Beispiel schon dann anzunehmen, wenn der Frachtführer die gebotene Sorgfalt in besonders hohem Maße missachtet und sich ihm dabei die Erkenntnis aufdrängen muss, dass ein Schaden eintreten wird. „Damit liegt die Messlatte für eine unbeschränkte Haftung des Frachtführers bei uns sehr tief“, sagt Valder. Hürden in Holland sind besonders hoch Gerichte in anderen europäischen Staaten wenden den Artikel 29 der CMR nach Aussage von Jürgen Temme hingegen nur in Ausnahmefällen an. Eine Haftung jenseits der festgelegten Höchstbeträge sei dort an strengere Voraussetzungen geknüpft. „Damit der Artikel 29 der CMR zum Beispiel in den Niederlanden zur Anwendung kommt und die Richter ein grobes Vergehen annehmen, muss der Frachtführer klauen oder einen LKW voller Goldbarren nachts unbewacht in einem Gewerbegebiet abstellen“, betont der Rechtsanwalt und Fachanwalt für Transportrecht der Kanzlei Advos. Diese Differenzen bei der Rechtsauslegung in den Ländern der Europäischen Union (EU) hätten angesichts der Tatsache, dass die CMR mehrere Gerichtsstände (siehe Begriffserklärung) eröffnet, Anlass dafür gegeben, durch zeitnahe Klageerhebung den Gerichtsstand und damit das anwendbare Recht zu bestimmen, erläutert er. Neben Großbritannien und Polen gilt dies laut Valder vor allem für die Niederlande: „Gerade dort haben CMR-Frachtführer beziehungsweise ihre Prozessbevollmächtigten in der Vergangenheit negative Feststellungsklagen erhoben – mit dem Ziel, dass die Gerichte die Voraussetzungen des Artikels 29 der CMR verneinen.“ Damit wollten die CMR-Frachtführer verhindern, vor deutschen Gerichten verklagt und wegen grober Fahrlässigkeit zu Schadensersatz in voller Höhe verurteilt zu werden. Umgekehrt meldeten viele Transportversicherer im Auftrag ihrer Mandanten vor einem deutschen Gericht ihre Regressansprüche an, wenn ein Schaden deutlich über den gesetzlichen Haftungshöchstgrenzen lag – auch dann, wenn der Frachtführer zuvor im Ausland negative Feststellungsklage wegen desselben Schadens erhoben hatte. Richter verweisen auf EG-Verordnung Der EuGH hat dieses Problem neu untersucht und versucht, Klarheit zu schaffen: Im Rahmen des eingangs genannten Rechtsstreites zwischen dem niederländischen Frachtführer und seinem Auftraggeber ging es auch um das Verhältnis der CMR als völkerrechtlicher Vertrag und der EG-Verordnung 44/2001 des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EuGVVO). „Die Kernaussage ist, dass bei der Auslegung einer Vereinbarung zwischen den Mitgliedstaaten die EuGVVO zu berücksichtigen ist“, erklärt Rechtsanwalt Temme. Darin stehe sinngemäß, dass besondere Übereinkommen wie die CMR nicht die Grundsätze beeinträchtigen dürfen, auf denen die justizielle Zusammenarbeit in Zivil- und Handelssachen in Europa beruht. Dazu gehören laut EuGVVO die gegenseitige Anerkennung der Entscheidungen, die Vorhersehbarkeit der zuständigen Gerichte und somit der Rechtssicherheit für die Bürger, die weitgehende Vermeidung von Parallelverfahren und das gegenseitige Vertrauen in die Justiz innerhalb der EU. Lediglich ein Gericht soll zuständig sein „Zudem hat der EuGH klargestellt, dass nur ein Gericht bei Streitigkeiten in CMR-Fällen zuständig sein kann – und zwar das zuerst angerufene Gericht“, erklärt Temme. Demgegenüber vertrat der Bundesgerichtshof (BGH) bisher die Ansicht, eine negative Feststellungsklage in einem Mitgliedstaat könne nicht denselben Anspruch betreffen wie eine wegen desselben Schadens zwischen denselben Parteien oder ihren Rechtsnachfolgern in einem anderen Mitgliedstaat anhängig gemachte Leistungsklage. Zur Begründung führt der EuGH aus, dass die vom BGH vorgenommene Auslegung des Artikels 31 der CMR, wonach eine negative Feststellungsklage keine vollstreckbare Entscheidung sein kann (siehe Urteils-Kasten oben), dem Artikel 71 der EuGVVO entgegensteht. „Dieser schreibt den Mitgliedstaaten vor, zeitlich vorrangige Rechtsstreitigkeiten oder gar rechtskräftige Urteile anzuerkennen – selbst wenn es sich um negative Feststellungsurteile handelt“ sagt der Mann von Advos. Verschärfter Wettlauf um Gerichtsstand Diese Entscheidung dürfte bei der Regulierung von Transportschäden zu einem neuen Wettlauf zum günstigsten internationalen Gerichtsstand führen. Das schätzt DSLV-Justiziar Valder. Denn das Urteil aus Luxemburg weiche bewusst von der bisherigen Rechtsprechung des obersten Gerichts der Bundesrepublik Deutschland ab. Der Fachmann geht davon aus, dass der BGH seine Rechtsprechung zu Artikel 31 der CMR künftig nicht mehr aufrechterhalten kann beziehungsweise die Instanzgerichte künftig nicht ihm, sondern dem EuGH folgen. „Für den Frachtführer kann es bei einem Großschaden finanzielle Vorteile haben, schnell eine negative Feststellungsklage zu erheben, bevor der Vertragspartner vor Gericht zieht“, erklärt Valder. Das Gleiche gelte für den Spediteur, wenn er als Auftraggeber des Frachtführers gegenüber dem Verlader für seinen Subunternehmer einzustehen habe und Gefahr laufe, aufgrund einer Leistungsklage in Deutschland vollen Schadensersatz zahlen zu müssen. Jurist warnt vor Wettbewerbsverzerrung Temme sieht das Urteil aus Luxemburg kritischer. Der Rechtsanwalt befürchtet, dass Frachtführer künftig vertraglich vermehrt einen Gerichtsstand zum Beispiel in Rotterdam vereinbaren, um im Schadensfall dort frühzeitig klagen zu können, und es dadurch im europäischen Transportmarkt zur Wettbewerbsverzerrung kommt. Hinsichtlich der aktuell anhängigen Verfahren rechnet er nicht damit, dass die oft zeitlich später erhobenen Leistungsklagen nun zurückgenommen werden. Immerhin sei es keineswegs sicher, dass der BGH die EuGH-Rechtsprechung akzeptiert. Laut Temme gibt es in Europa derzeit ein Dutzend offene Rechtsstreitigkeiten, bei denen einer negativen Feststellungsklage eine Leistungsklage in einem anderen EU-Land entgegensteht. „Es bräuchte jetzt einen Präzedenzfall, damit Rechtssicherheit für alle Beteiligten herrscht“, betont der Experte. Bis ein solcher Prozess seinen Abschluss gefunden habe, würde es nach seiner Einschätzung allerdings zwei bis drei Jahre dauern. ❙❚■ André Gieße Hintergrund: DAS gilt bisher in Deutschland Der BGH zur Zuständigkeit des Gerichtsstands in CMR-Streitfällen (Aktenzeichen: I ZR 294/02): Der Bundesgerichtshof (BGH) in Karlsruhe hat 2003 entschieden, dass die Rechtshängigkeit einer vom Schuldner bei einem international zuständigen Gericht erhobenen negativen Feststellungsklage der späteren Erhebung der Leistungsklage durch den Gläubiger vor dem Gericht eines anderen CMR-Vertragsstaats nicht entgegensteht. Damit hatte das oberste Gericht der Bundesrepublik Deutschland dem Wettlauf um die zeitlich schneller erhobene Klage einen Riegel vorgeschoben. „Der BGH hat damals erklärt, dass Artikel 31 der CMR so auszulegen ist, dass nur der Gläubiger eines Schadensersatzanspruchs durch seine Klage den Gerichtsstand bestimmen kann, nicht der Schuldner“, sagt Jürgen Temme. Demzufolge könne nur eine vollstreckbare Entscheidung Wirkung entfalten. „Eine negative Feststellungsklage ist nicht vollstreckbar, weil darin eben nur steht, ob jemand schuld ist oder nicht“, erläutert der Anwalt der Düsseldorfer Kanzlei Advos. ag Begriffserklärung Was ist eigentlich ein Gerichtsstand? Als Gerichtsstand wird in der Rechtssprache der Ort des örtlich und sachlich zuständigen Gerichts bezeichnet. Als Gerichtsstand infrage kommen laut den CMR neben dem Ort, an dem das betroffene Unternehmen seinen Hauptsitz, eine Zweigniederlassung oder Geschäftsstelle hat auch der Ort der Übernahme des Gutes oder der für die Ablieferung vorgesehene Ort. Darüber hinaus können beide Parteien bestimmte Gerichte von CMR-Vertragsstaaten vereinbaren, die sie anrufen können. Zum Beispiel können sich Geschäftspartner in Rotterdam vor Gericht treffen, obwohl keine der beiden Parteien dorthin eine Beziehung hat. ag Auslöser des EuGH-Urteils ist die zum Teil recht unterschiedliche Auslegung der CMR in Europa „In Deutschland liegt die Messlatte für eine unbeschränkte Haftung des Frachtführers sehr tief“ Hubert Valder, Justiziar des Deutschen Speditions- und Logistikverbandes

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