Bundesregierung vor der digitalen Bewährungsprobe

Alexander Dobrindt ist die korrekte Bezeichnung seines Ressorts wichtig. Der CSU-Politiker versteht sich nicht nur als Bundesverkehrsminister, denn er ist kraft seines Amtes und Titels auch zuständig für die digitale Infrastruktur. Darauf legt er großen Wert, sind doch auch seine Kabinettskollegen Siegmar Gabriel (SPD, Ressortchef Wirtschaft und Energie) und Thomas de Maizière (CDU, Ressort Inneres) etwa verantwortlich für die digitale Agenda der Regierung. Mit diesem Plan will der Bund beispielsweise den Aufbau flächendeckender Hochgeschwindigkeitsnetze unterstützen sowie die Sicherheit der IT-Netze verbessern. Für die digitale Agenda sind alle drei Ministerien gemeinsam federführend zuständig, was unüblich ist. So steht es im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD. Normalerweise hat nur ein Ressort den Hut auf. Dobrindt ruft digitale Versuchsfelder aus Angesichts dieser parteipolitischen Konkurrenzsituation überrascht es nicht, dass gerade der Minister, der das Wort "digital" im Titel führt, besonderen Wert auf öffentlichkeitswirksame Auftritte in diesem zukunftsträchtigen Politikfeld legt. Fernab vom Verliererthema Pkw-Maut gab Dobrindt kürzlich bekannt, dass in sechs Innenstädten "Testfelder" für das automatisierte Fahren eingerichtet werden. "Automatisiertes Fahren soll nicht nur im Labor, sondern im Realverkehr entwickelt werden", verkündete er während der nachrichtenarmen Zeit in der parlamentarischen Sommerpause. Für diesen Feldversuch in München, Hamburg, Ingolstadt, Düsseldorf, Dresden und Braunschweig stellt die Regierung bis 2020 insgesamt 80 Millionen Euro bereit. Weitere Städte können noch hinzukommen. Tests auf Autobahnen und in den Städten Für den Versuch in den ausgewählten Testfeldern werden Straßen in den Innenstädten mit Sensorik und neuen Mobilfunktechnologien ausgestattet. Die Fahrzeugcomputer sollen über die Rechenzentren der Städte mit leistungsfähiger Verkehrsleittechnik verbunden werden und so Ampeln und Kreuzungen erkennen können. Auf der Autobahn 9 hat Dobrindt in seiner bayerischen Heimat bereits im vergangenen Herbst ein Testfeld für vernetztes Fahren eröffnet. Bei den neuen Technologien übernehmen Bordcomputer bestimmte Fahraufgaben, etwa Brems- und Spurhalteassistenten oder Systeme, bei denen man auf der Autobahn für einige Zeit die Hand vom Lenkrad nehmen kann. Im Stadtverkehr müssen automatisierte Fahrzeuge auch komplizierte Situationen an Ampeln oder Kreuzungen bewältigen. Dobrindt weiß nicht zuletzt aus seiner Zeit als CSU-Generalsekretär, dass viele Bürger Zukunftstechnologien nicht selten mit Vorbehalten begegnen. So stehen nach einer Umfrage des Bundesverbandes der Verbraucherzentralen zwei von drei Deutschen dem automatisierten Fahren misstrauisch gegenüber. Sogar 80 Prozent der 1005 Befragten befürchten, dass ihr Wagen von außen gesteuert werden könnte. Diese Vorbehalte wurden kürzlich verstärkt durch den tödlichen Unfall mit einem Fahrzeug des Elektroautobauers Tesla, bei dem die "Autopilot"-Funktion eingeschaltet war. Dabei war ein Tesla unter einen Lastwagen-Anhänger gerast, der die Straße überquerte. Die US-Verkehrsaufsicht ermittelt. Tesla könnte voreilig mit unausgereifter Technologie auf den Markt gegangen sein, lautet der Vorwurf. Die Diskussion über das "Autopilot" genannte Fahrassistenz-System des Elektroautobauers ist Anfang August durch einen Unfall in China erneut angeheizt worden. Dort rammte der Fahrer mit seinem Tesla "Model S" in Peking einen Wagen, der nahe der Leitplanke abgestellt war, während die Fahrhilfe aktiviert war. Deshalb lag es nahe, dass der Bundesverkehrsminister für digitale Infrastruktur eine Kommission berufen hat, die "ethische Fragen beim Paradigmenwechsel vom Autofahrer zum Autopilot" klären soll. Mit Beteiligung von Vertretern aus Wissenschaft, Fahrzeugindustrie und Digitalbranche soll dieses Gremium Leitlinien für Algorithmen entwickeln, nach denen vernetzte und selbst fahrende Pkw und Lkw künftig in Risikosituationen reagieren. Kommission soll ethische Fragen klären Der "Weichensteller" für das automatisierte Fahren ist ein intellektuelles Schwergewicht: der frühere Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio. Das Gremium soll unter dem Vorsitz des Topjuristen die wichtigsten moralischen Fragen bei der Einführung der neuen Techniken klären. Dabei soll etwa gelten: "Ein Sachschaden ist einem Personenschaden immer vorzuziehen". Außerdem will Dobrindt vermeiden, dass ein Fahrzeug-Computer eine Abwägung zwischen zwei möglichen Unfallopfern trifft, etwa einem Rentner und einem Kind. Wer neben Di Fabio in die Kommission berufen wird, ist noch nicht bekannt. Parallel zu den Beratungen der Sachverständigen will die Bundesregierung Rechtsklarheit für automatisiertes Fahren schaffen. Entsprechende Gesetze sollen die Voraussetzungen dafür auf nationaler und internationaler Ebene schaffen. Eine Vorlage zielt auf eine Änderung des Wiener Übereinkommens über den Straßenverkehr aus dem Jahr 1968. Dieses ist ein völkerrechtlicher Vertrag, der den Straßenverkehr durch Standardisierung der Verkehrsregeln sicherer machen soll. Er folgt dem Grundgedanken, dass jedes Fahrzeug, das sich in Bewegung befindet, einen Fahrer haben muss. Vor dem Hintergrund der sich stetig weiterentwickelnden Technik zur Unterstützung des Fahrers hätten mehrere Vertragsparteien Änderungen vorgeschlagen, argumentiert die Regierung. Diese sähen vor, dass Systeme, welche die Führungen eines Fahrzeuges beeinflussen, als zulässig erachtet werden, wenn diese den Regelungen der Vereinten Nationen für Europa entsprechen würden oder die Systeme so gestaltet seien, dass sie durch den Fahrer übersteuerbar oder abschaltbar seien. Dies betrifft etwa Brems- und Spurhalteassistenten oder Systeme, bei denen der Fahrer auf der Autobahn für einige Zeit die Hand vom Lenkrad nehmen kann. Straßenverkehrsgesetz soll sich ändern Darüber hinaus will der Bundesverkehrsminister in Kürze einen Gesetzentwurf vorlegen, um das Straßenverkehrsgesetz zu ändern. Ziel sei es, das vollautomatisierte Fahren in Deutschland zu ermöglichen. Der Gesetzentwurf sieht vor, "dass sich der Fahrzeugführer während der Fahrzeugführung mittels automatisierter Fahrfunktion vom Verkehrsgeschehen und der Fahrzeugsteuerung abwenden darf". Der Fahrer müsse aber weiter an Lenkrad und Bremspedal sitzen und "nach Aufforderung durch das automatisierte System" wieder übernehmen. Die Fahrzeughersteller, die die Politik zum Handeln aufgefordert hatten, sollen Chips in die Autos einbauen, die aufzeichnen, wann das System aktiv war, wann der Fahrer fuhr und wann das System den Fahrer aufgefordert hat, zu übernehmen. Dobrindts ehrgeiziges Ziel: Deutschland soll zum Leitanbieter für automatisierte und vernetzte Fahrzeuge werden. Sein Amtsvorgänger aus den Neunzigerjahren, der heutige Präsident des Verbands der Automobilindustrie (VDA), Matthias Wissmann, hat angekündigt, dass Daimler auf der IAA Nutzfahrzeuge 2016 in Hannover einen Rechtsabbiegeassistenten und der Technologiekonzern ZF Friedrichshafen einen Ausweichassistenten vorstellen werden. Er rechne damit, dass auch diese Sicherheitssysteme zu einem späteren Zeitpunkt gesetzlich zum Einbau vorgeschrieben würden, sagte Wissmann - auch wenn er nichts davon halte, zu früh nach dem Gesetzgeber zu rufen. Bereits vorgeschrieben sind für Lkw als Fahrerassistenzsystem das elektronische Stabilitätsprogramm, der Spurverlassenswarner und das vorausschauende Notbremssystem. Kongress zum automatisierten Fahren Der Kongress "Die digitale Revolution der Autoindustrie" wird auf der IAA Nutzfahrzeuge 2016 Experten aus Automobilindustrie, Telekommunikation und IT-Bereich zusammenführen. Der VW-Konzern hat soeben mit seiner Strategie "Strategie 2025" deutlich gemacht, dass er die Abgaskrise hinter sich lassen und zum Mobilitätsdienstleister werden will. "Wir haben noch einiges in der Pipeline", sagt Digitalchef Johann Jungwirth. Dienstleistungen neben dem reinen Automobilbau, der E-Mobilität und dem autonomen Fahren und Parken sind Kernpunkte der Strategie. Richtig in Fahrt kommen sollen die neuen Mobilitätsdienste, wenn in einigen Jahren selbstfahrende Fahrzeuge auf dem Markt sind. "Ich erwarte in den nächsten drei bis fünf Jahren am Markt die ersten Fahrzeuge", betont Jungwirth. Es werde Hunderttausende, wenn nicht sogar Millionen von Fahrzeugen geben, die in den Innenstädten dieser Welt Güter und Personen von A nach B transportieren werden. Selbstfahrende Autos werde es künftig in allen Bereichen geben - vom kleinen Roboterauto bis hin zu Lkw und Bussen. Dann würde auch der Führerschein überflüssig. Der Digitalchef vergleicht Systeme, die Autos ohne Fahrer lenken, mit den großen Kernerfindungen der Menschheit wie Dampfmaschine, Eisenbahn oder Elektrizität. Systeme müssen Zuverlässigkeit zeigen Bislang sind die Einsatzgebiete für das automatisierte Fahren hierzulande allerdings sehr begrenzt. Jeder Hersteller tüftelt vor sich hin. Vorreiter Daimler durfte bisher auf öffentlichen Straßen nur mit Ausnahmegenehmigung fahren. Scania will damit beginnen, selbstfahrende Systeme in abgeschlossenen Arealen zu testen. Etwa in Hafengebieten oder im Bergbau, wo keine Kinder spielen, es keine Zebrastreifen gibt und kaum andere Verkehrsteilnehmer stören könnten. Zunächst sollen die Systeme intern beweisen, wie zuverlässig sie arbeiten. Nach außen ist derweil viel Überzeugungsarbeit notwendig. Anfang April hatte die niederländische Regierung die deshalb sogenannte European Truck Platooning Challenge gestartet. Sechs Lkw-Hersteller - MAN, Scania, DAF, Iveco, Volvo und Daimler - machten dabei mit. Rotterdam war das Ziel, Abfahrtsorte waren Stuttgart, München und Städte in Skandinavien. Die Lkw hatten dafür eine Sondergenehmigung. Sie waren mit spezieller Technik ausgestattet und miteinander durch Radar, GPS und WLAN vernetzt. "Noch sind gesellschaftliche und juristische Aspekte zu klären", weiß man bei Daimler. Bis zum vollautomatischen Fahren sei es in Deutschland noch ein weiter Weg, sagte eine Sprecherin. "Aber erste Teilfunktionen werden wir in den kommenden Jahren sicher auch in Deutschland sehen". Eine halbe Milliarde Euro will Daimler bis 2020 in Internettechnologien in Lkw investieren, kündigte Wolfgang Bernhard an, im Vorstand zuständig für die Nutzfahrzeuge. Im Vorfeld der IAA Nutzfahrzeuge mahnte er, man müsse das Tempo hoch halten, um den Vorsprung nicht zu verlieren, bei der Technologie wie beim rechtlichen Rahmen. Er forderte die Politik auf, die Vorschriften anzupassen, ohne sich dabei zu verzetteln. "Bevor wir alle möglichen Fragen des vollautonomen Fahrens diskutieren, müssen wir teilautonomes Fahren ermöglichen. Wir müssen dem Fahrer erlauben, die Hände vom Lenkrad zu nehmen", betonte Bernhard. SPD warnt vor Eile Dobrindts Kollegen vom Koalitionspartner SPD warnen indes vor zu großer Eile beim automatisierten Fahren. Ihr rechtsund verbraucherschutzpolitische Sprecher Johannes Fechner verlangt eine genaue Prüfung, "was Assistenzsysteme leisten können, wie zuverlässig sie sind und was das für die Haftung des Fahrers, des Halters und des Herstellers bedeutet". Fechner besteht auf klare Regelungen der Verantwortung. "Aufgrund der derzeit noch beschränkten Fähigkeiten der Technik muss der Fahrer immer in der Lage sein, in kritischen Situationen rechtzeitig die Steuerung des Fahrzeugs wieder zu übernehmen", sagt der SPD-Politiker. Zwar sind sich Juristen einig, dass zivilrechtlich auch bei einem selbstständig fahrenden Auto weiter die Versicherung des Fahrzeughalters für Schäden aufkommen muss. Dobrindt will aber klarstellen, dass ein Insasse nicht fahrlässig handelt, wenn er den Autopiloten wie vorgeschrieben nutzt und daher bei einem möglichen Unfall nicht rechtzeitig einschreiten konnte. In zehn Jahren könnte die Technik dann so weit ausgereift sein, dass es möglich ist, autonom fahrende Lkw in Serie zu produzieren. Bis sie regelmäßig auf Fern- und Bundesstraßen verkehren, dürfte es mindestens bis 2030 dauern. Darüber sind sich sowohl die Automobilindustrie als auch der Bundesverkehrsminister einig. Mehr zum Thema unter Autonomes Fahren www.verkehrsrundschau.de/dossier Was ist Platooning? Platooning bedeutet in der Kolonne fahren. Der erste Lkw gibt das Tempo vor, alle anderen folgen (siehe Bild oben). Das funktioniert, weil sich die Lkw untereinander vernetzen. Durch automatische Bremssysteme reagieren die Trucks schneller - und können daher weniger Abstand halten. Bis zu zehn Fahrzeuge können eine gemeinsame Kolonne bilden. Auf diese Weise sollen die Lkw Kraftstoff sparen. Fahren sie dichter hintereinander her, verbrauchen sie weniger Energie. Das gleichmäßige Tempo der Fahrzeuge soll auch Staus verhindern. Das Fahren in Lkw-Kolonnen soll dazu beitragen, die ehrgeizigen klimapolitischen Ziele der Bundesregierung zu erfüllen.Dazu gehört unter anderem, dass die Luft sauberer werden soll. Mit Lkw-Platooning lässt sich Diesel sparen mit der Folge, dass weniger Dreck über die Abgase in die Luft gelangt. Zudem sinken die Spritkosten. jök Pilotversuche Es gibt immer mehr Teststrecken in Deutschland Nach der Autobahn A 9 soll es auch auf der A 7 und der A 2 Versuchsstrecken für selbstfahrende Pkw und Lkw geben. Niedersachsen will auf den Autobahnen 2 und 7 im Raum zwischen Hannover, Braunschweig und Salzgitter einen Testring für autonomes Fahren aufbauen. Die Strecken sollen bis 2018 schrittweise mit der erforderlichen Technik ausgerüstet werden, Bundesverkehrsminister Alexander Dobrindt hatte im Juni erklärt, dass der Ausbau der Teststrecke auf der A 9 weiter vorangetrieben wird. Zwischen München und Nürnberg sollen Radarsensoren aufgebaut werden, die Verkehrsdichte, Tempo, Abstand und andere Bewegungsdaten der Fahrzeuge anonym messen. "Die A 9 in Bayern wird die erste intelligente und volldigitalisierte Straße". jök

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