Profi-Test Designwerk: 500 Kilometer Reichweite mit 40 Tonnen

Von normal ist diese augenscheinlich als Volvo FH zu identifizierende Sattelzugmaschine weit entfernt! 7,63 Meter Länge misst das dreiachsige Teil, hinter dessen Kabine zusätzlich ein Technikturm gen Himmel ragt, der eigentlich ausgewachsenen Schwerlastzugmaschinen vorbehalten bleibt. Der Aufgabe, die ihm hier zukommt, widmen wir uns später, zunächst wollen wir klären, mit wem wir es hier eigentlich zu tun haben. Ein Indiz sind die Buchstaben "DW" an der Front. Sie stehen abgekürzt für "Designwerk", ein Schweizer Unternehmen, das seit 2008 unter anderem Lastwagen auf Elektroantrieb umbaut und dabei durchaus in "extreme" Bereiche vorstößt. Darin sah man bei Volvo Trucks die perfekte Ergänzung zum hauseigenen Elektroprogramm, um auch spezielle Kundenwünsche in Sachen Batterieelektrik anbieten zu können, und erwarb kurzerhand 60 Prozent der Unternehmensanteile. Dass der HC 900 E, so die genaue Bezeichnung des Testfahrzeugs, auf einem FH aufbaut, ist daher nicht verwunderlich. Am Namen können Insider übrigens erkennen, dass es sich hier um das Topmodell von Designwerk handelt. HC steht für "High Cab" also das große FH-Fahrerhaus, denn die Schweizer bauen auch den kleineren FM oder das Baumodell FMX auf Elektro um. Den eigentlichen Trumpf verrät aber die Zahl 900, die für die extreme Brutto-Batteriekapazität steht. Zum Vergleich bringt es beispielsweise der Volvo FH Electric auf maximal 540 kWh und die längst noch nicht lieferbaren Fernverkehrssattelzugmaschinen von MAN und Mercedes-Benz auf 500 beziehungsweise 600 Kilowattstunden Batteriekapazität. Das Plus an Kapazität soll sich laut Designwerk in konkurrenzlos hoher Reichweite widerspiegeln. 500 Kilometer sollen auch bei voller Ausladung überhaupt kein Problem sein. Der HC 900 E, der in den kommenden Wochen sogar noch ein Update auf 1000 Kilowattstunden Kapazität erhält, könnte damit der erste batteriebetriebene Lastwagen sein, der unsere 342 Kilometer lange Testrunde ohne einen Zwischenstopp an einer Hochleistungsladesäule schafft. 14,7 Tonnen Leergewicht Wobei das mit der angesprochenen vollen Ausladung so eine Sache ist. Denn die gewaltige Energie ist in insgesamt vier Batteriepaketen gespeichert, die jeweils 1360 Kilo wiegen. Womit der Grund für den Schwerlastturm geklärt wäre, denn an den Rahmenträgern bleibt pro Fahrzeugseite nur Platz für eines dieser Pakete, weshalb die beiden anderen hinter die Kabine müssen. Macht satte 5,44 Tonnen allein für die Batterien. Inklusive der an unserer Zugmaschine zusätzlich verbauten Hydraulikanlage, um auch mit Kippsattel- oder Silo-Aufliegern arbeiten zu können, wuchtet diese damit nicht weniger als 14,6 Tonnen Eigengewicht auf die Waage! Die zusätzliche Nachlaufachse ist damit Pflicht, bei einem herkömmlichen 4x2-Achser wäre die Hinterachse ansonsten im Handumdrehen überladen. Technische Daten Motor Vollelektrischer Antrieb über vier Synchron-Elektromotoren, Hersteller: AC-Propulsion, Wasserkühlung; Gesamtleistung: 500 kW (680 PS), maximales Drehmoment: 32.000 Nm ab 0/min, Service: fortlaufend jährlich (hier vorrangig Sichtprüfungen der Hochvolt-Steckverbindungen) Kraftübertragung Einfache Getriebeuntersetzung, Antrieb auf die 1. Hinterachse; elektrischer Nebenabtrieb optional (bis zu 2 E-PTOs: 60 kW/220 Nm, 120 kW/ 320 Nm, 125 kW/340 Nm) Batterien & Ladezeiten Lithium-Ionen-Akkus mit modularem Aufbau, Brutto-Kapazität pro Stack: 225 kWh, wahlweise 2, 3 oder 4 Stacks lieferbar, Brutto-Kapazität Testfahrzeug: 900 kWh, nutzbare Kapazität: 765 kWh, Ladezeiten (Werksangaben): 22 kW: 37,3 Std. (bis 100 %): 44 kW: 18,7 Std. (bis 100%); 150 kW: 3,5 Std. (10-80 %); 350 kW: 1,5 Std (10-80 %), Reichweite (Werksangabe): bis zu 500 km Bremsen Zweikreis-Druckluftbremsanlage, Scheibenbremsen, Dauerbremse: Rekuperationsmodus, stufenlos regelbar per Pedal Maße & Gewichte Radstand: 3900 mm; L x B x H: 7630 x 2495 x 3950 mm; Leergewicht (Testfahrz.): 14.600 kg Um dem auch beim Thema Gesamtgewicht zu entgehen, muss außerdem unser voll ausgeladener Fliegl-Trailer diesmal im Stall bleiben. Stattdessen satteln wir den teilbeladenen Testauflieger von Krone auf, mit dem wir trotzdem bereits auf knapp 39 Tonnen kommen. Transportunternehmen müssen in Sachen Zuladung also einige Abstriche einkalkulieren, welche durch die für schwere Elektrolastwagen seitens des Gesetzgebers erlaubten 42 Tonnen Gesamtgewicht nur teilweise aufgewogen werden. Und es gibt ein weiteres Problem, denn die Testfuhre sprengt aufgrund der raumgreifenden Batteriepakete hinter dem Fahrerhaus das erlaubte Längenmaß. Eine entsprechende Ausnahmegenehmigung ist deshalb Pflicht. Vieles in der Kabine bleibt Volvo Die haben wir selbstredend im Gepäck, weshalb wir sogleich hinter dem Lenkrad Platz nehmen können. Hier ist alles auffällig Volvo, sogar das Logo des schwedischen Herstellers prangt noch auf dem Lenkrad. "Geht nicht anders, weil hier ein Airbag verbaut ist", erklärt der Designwerk-Werksfahrer auf dem Beifahrersitz. Auch das digitale Zentralinstrument ist zu 100 Prozent vom "Zulieferer" aus Göteborg übernommen und weist sogar noch die Anzeigen für AdBlue und Diesel aus, wobei letztere hier den Status der Batterien anzeigt. Ohne Funktion bleibt dagegen der Trip-Computer im Touchscreen rechts auf der Mittelkonsole. Das alles versprüht schon etwas den Charme einer Bastellösung, wozu auch der über Kopf neben dem digitalen Tachographen platzierte Nachrüstbildschirm beiträgt. Auf dem informiert Designwerk zwar beispielsweise über den aktuellen Akkufüllstand oder Stromverbrauch, während der Fahrt sind diese Infos über Kopf aber eher schwer zu erfassen. Vier E-Motoren sorgen für Vortrieb Gestartet werden die vier in Reihe geschalteten Elektromotoren per traditionellem Schlüsseldreh. Sie stammen vom US-Hersteller AC-Propulsion, und zwar bewusst aus dessen Pkw-Regal. "So erhalten wir ausgereifte Technik und falls doch mal einer der Motoren ausfallen sollte, kann man mit dreien noch problemlos den aktuellen Transportauftrag erfüllen", lautet die Begründung des Werksfahrers. Die Portionierung der gebündelten Kraft geschieht per einfacher Untersetzung, anders als im Electric-FH von Volvo gibt es hier also keine Fahrstufenwechsel. Lediglich die Fahrtrichtung gilt es über die in der Mittelkonsole integrierten Volvo-Taster vorzugeben. Das Fahren selbst ist typisch Elektro und bestätigt einmal mehr unsere These: Wer einmal einen E-Lkw gelenkt hat, wird freiwillig kaum auf einen Diesel zurückwechseln. Zu kommod und leise geht es in der Kabine zu, bis auf den Fahrtwind und die Abrollgeräusche der Räder herrscht himmlische Ruhe im Globetrotter-Haus. Was darüber hinwegtäuscht, wie brachial der HC 900 E zur Sache geht. Selbst steilste Berge beeindrucken die 500 kW (680 PS) und bis zu 32.000 Newtonmeter Drehmoment, die elektrotypisch bereits ab Stillstand anliegen, nicht. Da ein Tempoverlust durch steigungsbedingte Rückschaltungen ebenfalls ausfällt, wandert die Tachonadel bergauf nie unter 82 km/h. Kein Artgenosse mit Verbrennungsmotor hat auch nur den Hauch einer Chance. Selbst der tapfer kämpfende Kollege mit seinem zweifellos potenten V8-Scania muss das am Kindinger Berg auf der A 9 einsehen. Verbräuche und Geschwindigkeiten: 342,8-km-Teststrecke kWh/ 100 km km/h Autobahn medium (40 t)A 9 Allershausen - A 93 Regensburg 110,36 85,90 Autobahn hügelig (40 t)A 3 Regensburg - Nürnberg 122,77 85,40 Autobahn Rolletappe (40 t)A 9 Nürnberg - Langenbruck 126,75 85,57 Landstraße (40 t)Langenbruck - Dasing 119,80 62,15 Autobahn leicht (40 t)A 8 Dasing - A 99 AS M-Ludwigsfeld 113,51 85,38 Durchschnitt: (gewichtet) 119,81 81,08 Bergwertung Autobahn (Kindinger Berg, A 9)Zeit: 3,18 min, Vmin 81 km/h,Verbrauch (4,5 km/141 Hm): 533 kWh/100 km Manchmal einfach zu viel Power Mitunter erachten wir die Power durchaus als zu viel des Guten. Reaktiviert man beispielsweise nach einem Autobahnwechsel den Tempomaten, katapultieren die Motoren die Fuhre derart nach vorne, dass man unweigerlich auf den Vordermann aufläuft, der auch mal ein Pkw sein kann. Eine etwas gemäßigtere Gangart wäre hier energiespartechnisch und vor dem Hintergrund des Reifenabriebs sinnvoll. Apropos sinnvoll: Einen GPS-Tempomaten, der den Stromverbrauch ebenfalls nach unten korrigieren würde, hat Designwerk ebenso wenig im Programm wie einen Abstandstempomaten. Beides wäre nur mit großem Aufwand realisierbar, der sich für den kleinen Hersteller nicht lohnt, so die offizielle Begründung. Für den Rekuperationsmodus hält Designwerk dafür ein großartiges Detail vor. Wie bei jedem E-Lkw schalten die Motoren hier auf Generatorbetrieb und wandeln die Roll- und Bremsenergie des Sattelzuges in Elektrizität um. Das füllt einerseits die Akkus und übernimmt gleichzeitig den Job des Retarders. Im Designwerk lässt sich die Stärke der Rekuperation allerdings stufenlos regeln, und zwar über ein zusätzliches Pedal im Fußraum, das sich bequem mit dem linken Fuß bedienen lässt. Das funktioniert schon nach kurzer Gewöhnung so gut, dass man nicht mehr auf die Idee kommt, alternativ den rechten Lenkstockhebel dafür zu bemühen. Deshalb gerne nachmachen, liebe Lkw-Produzenten! Bevor wir uns jetzt der in Zeiten steigender Strompreise wichtigen wirtschaftlichen Seite widmen, noch ein Wort zur Reichweite: Der Bordcomputer meldet nach 425 Kilometern einen Akkufüllstand von 26 Prozent. Die versprochenen 500 Kilometer hätten wir also locker geschafft. Und mit einer etwas ökonomischeren Abstimmung wäre sicher noch weitere Luft nach oben. Die bislang schnellste Durchschnittsgeschwindigkeit über unsere Teststrecke erkauft sich der HC 900 E nämlich mit einem Durchschnittsverbrauch von 119,81 kWh. Das sind immerhin 9,8 Kilowattstunden mehr, als sich der Volvo FH Electric durchschnittlich auf der VR-Testrunde schmecken ließ (siehe VR 2/2022). Zudem bot der 4,9 Tonnen mehr Nutzlast. Tribute an die hohe Batteriekapazität, die zusätzliche Achse und fehlende Eco-Systeme wie den GPS-Tempomaten. Beim anschließenden Ladevorgang liefert der Schweizer Umbauer dafür wieder Superlative, denn das Testfahrzeug lädt seine Akkus im Bereich von null bis 90 Prozent durchgehend mit bis zu 350 kW. Im Idealfall kann die Reise also nach 1,5 Stunden weitergehen. Der Fernverkehr fordert Kompromisse Aber ist das Konzept des HC 900 E im Fernverkehr insgesamt eine Alternative? Allein in Anbetracht des hohen Leergewichts dürfte der Großteil der Transportunternehmen diese Frage mit Nein beantworten. Auch bei Designwerk sieht man den Fernverkehr eher als Randerscheinung, den man vermehrt den Kollegen von Volvo Trucks überlassen will. Die Stärken der Schweizer sind vor allem batteriebetriebene Spezialfahrzeuge mit ungewöhnlichen Achskonfigurationen oder strom-betriebenen Aufbauten, die eine hohe Akkukapazität benötigen. An der Volvo-Niederlassung in Aschheim bei München, die uns während der Testtage als Basislager diente, warteten dann auch gleich drei Volvo FM mit dem DW-Logo an der Front auf ihre Auslieferung - bestückt mit elektrisch betriebenen Pressmüllaufbauten. Fazit Einfach gewaltig! Optisch auffällig und brachiale Kraftentfaltung - Designwerks HC 900 E liefert eine gewaltige Vorstellung ab. Was der Test aber ebenfalls zeigt: So einfach wird der Umstieg auf die Batterieelektrik im Fernverkehr nicht klappen. Denn wer hohe Reichweiten benötigt, muss mit einem ebenso hohen Batteriegewicht leben. Dann doch besser kleinere Akkus verbauen, die man dafür öfter lädt? Das klappt nur mit entsprechenden Hochleistungssäulen und die sind an deutschen Autobahnen längst noch nicht in Sicht. Jan Burgdorf, Test-Redakteur, jan.burgdorf@springernature.com Bewertung: Designwerk HC 900 E Motor/Antrieb (max. 140)Getriebe/Kupplung (max. 140)Bremsen (max. 120)Lenkung (max. 40)Pedale (max. 20)Fahrverhalten (max. 60)Sicht (max. 50)Klima/Lüftung (max. 50)Sitze (max. 40)Armaturen/Instrumente (max. 50)Scheibenwischer (max. 30)Fahrerhaus (max. 240)Gesamtwertung (max. 980): 135-1043616554343354024198729 Testurteil + extrem niedrige Geräuschkulisse, souveräne Kraftentfaltung, für einen batteriebetriebenen Lkw hohe Reichweite, hohe Ladeleistung, Pedal für stufenlose Rekuperation - sehr hohes Leergewicht, Überlänge mit Standard-Auflieger, bislang noch kein Hochleistungsladenetz für Elektro-Lkw vorhanden, erwartungsgemäß hoher Anschaffungspreis

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