„Das Tempo rausnehmen“

Interview„Das Tempo rausnehmen“ Der Euro vor dem Aus, ein Crash unausweichlich – und die Politik reagiert nur, statt zu agieren: Börsen- und Wirtschaftsfachmann Dirk Müller attackiert im VR-Interview das Krisenmanagement der schwarz-gelben Regierung.Herr Müller, jeden Tag gibt es etwas Neues in Sachen Euro, Rettungspakete sind schon Tage später wieder überholt, fast im Stundentakt verunsichern neue Daten die Märkte. Verlieren bei diesem Tempo nicht selbst Fachleute wie Sie den Überblick?Es fällt tatsächlich ausgesprochen schwer. Selbst wenn man sich rund um die Uhr mit diesen Themen beschäftigt, ist es überhaupt nicht möglich, dieses Tempo noch mitzugehen. Dieser Effekt ist ganz besonders stark an der Börse zu beobachten: Die Märkte sind noch dramatisch schneller, als es die reale Wirtschaft schon ist. Da komme selbst ich als Fachmann nicht immer mit. Wenn es Ihnen schon so geht, wie soll sich dann die Politik fühlen?Das ist ja genau das Problem. Die Politik braucht natürlich Zeit, um Lösungen für Probleme zu finden, und diese hat sie leider nicht. Sie müsste die Muße haben, sich mit Fachleuten auszutauschen und offen diskutieren zu können. Das sind Dinge, die kann man nicht auf Knopfdruck machen. Aber hat sie wirklich die Möglichkeit, das Tempo rauszunehmen?Das geht. Nehmen Sie als Beispiel Verfassungsgerichtspräsident Andreas Voßkuhle. Er wurde bei der Entscheidung des Verfassungsgerichts zum ESM gedrängt, sofort und umgehend zu entscheiden. Er hat aber gegen den Druck von Märkten und Politik gesagt: „Wir nehmen uns die Zeit, die wir brauchen und werden das in aller Ruhe bedenken.“ Recht hat der Mann, ein mutiger und richtiger Schritt! Er hat das Tempo rausgenommen, genauso müssten es die Politiker machen. Sie müssen versuchen, richtige Entscheidungen zu treffen – und nicht schnelle Entscheidungen. Wenn ich mir anschaue, wie das Parlament im Eiltempo wichtige Gesetze durchwinkt, die Abgeordneten also gar keine Zeit haben, sich die 100-Seiten-Anträge überhaupt durchzulesen und reflektieren zu können, dann wird einem schon Angst und Bange. Das ist wie im Straßenverkehr: Wenn Sie ein Tempo fahren, das der Situation nicht angemessen ist, dann führt das in die Katastrophe. Da werden Ihnen sicher nicht viele widersprechen – aber nochmal: Hat die Politik wirklich eine Wahl? Um mehr Zeit für die Suche nach dem richtigen Weg zu gewinnen, müssten doch zu allererst die Finanzmärkte entschleunigt werden …Genau das ist der Punkt. Wir müssen die heute an den Finanzmärkten vorherrschende Geschwindigkeit verringern. Wir haben in den letzten zehn Jahren eine Tempobeschleunigung an den Märkten gesehen, die völliger Wahnsinn ist und mit der realen Wirtschaft nichts mehr zu tun hat. Früher wurde zwei Stunden an der Börse gehandelt, da ging es noch darum, in ein Unternehmen und seinen Erfolg zu investieren. Heute wird in Sekundenbruchteilen hin- und hergehandelt – ein Vorgehen, das der Wirtschaft in keiner Weise dient. Ein Unternehmen braucht langfristige Investoren, um Maschinen und LKW kaufen zu können. So wie es heute läuft, sind wir die Sklaven des Computerhandels. Wenn wir das nicht in den Griff bekommen, dann wird auch die Politik mit ihren Entscheidungen ewig hinterherlaufen. Viel ist in Sachen Finanzmarkt- und Börsenhandelsregulierung aber seit der letzten Krise nicht passiert.Leider nicht, da die Politik hier die Zusammenhänge oft nicht versteht. Sie lässt sich von den Banken in die Irre führen, die erklären: „Das ist halt so, das ist die neue Welt“. Bullshit, ist es nicht! Die Politik muss nur das Heft des Handelns wieder in die Hand nehmen und die Regeln ändern. Wenn das Tempo an den Börsen zu hoch ist, braucht es ein Tempolimit. Und dafür ist die Politik verantwortlich.Das Thema, das zurzeit die Märkte bewegt, ist ja der Euro. Was meinen Sie: Hat Griechenland Ende des Jahres noch den Euro? Ich mach es mir mal bequemer und sage: Es würde mich stark wundern, wenn Griechenland Ende des nächsten Jahres den Euro noch hätte. Aber zu welchem Zeitpunkt auch immer: Ich gehe fest davon aus, dass Griechenland und auch andere den Euroraum verlassen werden. Dann wäre das deutsche Geld aus den Rettungsschirmen verloren?Ja.Hat die Politik die Rettungspakete wider besseren Wissens geschnürt?Man hat sich ganz bewusst Zeit erkauft – teuer erkauft. Für mich grenzt das an Veruntreuung von Steuergeldern. Man hat Garantien gegeben und Geld nach Griechenland überwiesen, obwohl allen klar war, dass das Geld nicht zurückkommen wird. Das einzige Ziel war, Zeit für die Banken zu gewinnen, damit diese ihre Risiken mindern konnten. Nach der Devise: Haften soll der Steuerzahler, nicht die Banken. Auch heute noch sagt Kanzlerin Merkel: Wir wollen Griechenland im Euro halten. Hinter den Kulissen sind sich da längst alle einig – Griechenland wird den Euroraum verlassen. Es traut sich nur keiner zu sagen. Wer muss den Euroraum noch verlassen?Der Euro ist für die meisten südlichen Länder die vollkommen falsche Währung. Wenn etwa Spanien und Italien zu ihrer alten Währung zurückgingen, würde diese um rund fünfzig Prozent abwerten. Das bedeutet, dass der Euro heute zu einhundert Prozent über ihrer Leistungsfähigkeit liegt. Das kann ein Land nicht verkraften, dann brechen die Exporte weg, dann kauft niemand mehr dort ein. Genau das ist nach Einführung des Euro in diesen Ländern passiert – und die Differenz haben diese Länder durch Kreditaufnahme ausgeglichen. Vor Einführung des Euro waren etwa Griechenland und Türkei auf dem gleichen Level mit einer parallelen wirtschaftlichen Entwicklung. In Folge der Euroeinführung ist die türkische Wirtschaft dramatisch gewachsen, die griechische Wirtschaft ist komplett weggebrochen. Wer vorher in Griechenland Urlaub gemacht hat, hat ab dann in der Türkei Urlaub gemacht, da Griechenland zu teuer wurde. Das heißt aber doch im Umkehrschluss: Der Euro ist für Deutschland eine Währung, die ebenfalls nicht zu unserer Wirtschaftskraft passt. Erschleichen wir uns also Exportvorteile auf Kosten der südlichen Länder? Das ist richtig. Unsere Währung müsste um mindestens zwanzig Prozent aufwerten. Wir ergaunern uns zurzeit Exportvorteile durch den Euro. Dann wäre es doch für uns, vor allem für den Export, eine Katastrophe, wenn sich der Euroraum verkleinerte. Schließlich ist der Export elementar für die deutsche Wirtschaft …Das wäre für uns sicherlich ärgerlich, aber kein Beinbruch. Und Exportweltmeister waren wir auch mit der D-Mark. Deutschland ist also durchaus in der Lage, mit einer Währung klarzukommen, die seiner Leistungsfähigkeit entspricht. Einige Exportvorteile würden zwar wegfallen – aber billiger als die Rettungsmilliarden wäre das allemal. Und ganz nebenbei würde die Kaufkraft der deutschen Bürger steigen, da die Produkte, die wir importieren, wie etwa Benzin, billiger würden. Wir würden ein paar Daimler in Peking weniger verkaufen, dafür aber mehr in Stuttgart. Plädieren Sie denn für eine Rückkehr zur D-Mark oder für einen Kern-Euro unter wirtschaftlich gleich starken Ländern?Grundsätzlich wäre ein Kerneuropa mit denen, die heute schon auf Augenhöhe sind, natürlich die bessere Option. Das wären etwa Deutschland, Österreich, Niederlande oder Finnland. Wenn wir hier ein gemeinsames politisches System schaffen, durch einheitliche Gewerbesteuern, Mehrwertsteuern, Einkommenssteuern, Rentensysteme oder Arbeitsmarktbedingungen, dann wäre eine gemeinsame Währung, ein Kern-Euro, die beste Option. Das wäre auf jeden Fall sinnvoller als 27 einzelne Währungen in Europa. Dafür braucht es aber einen geordneten Prozess – und der ist überhaupt nicht absehbar.Die deutschen Politiker versuchen ja gerade, die Systeme zusammenzuführen, aber leider nicht für ein Kerneuropa, sondern für den ganzen Euroraum. Leider machen sie bei diesem Prozess dramatische Fehler. Sie setzen etwa die Haftungsunion an den Anfang des Prozesses, anstatt die politische und steuerliche Union auf die Agenda zu setzen. Wenn dieser geordnete Prozess Richtung Kern-Euro nicht funktioniert, ist dann der nächste Crash vorprogrammiert?Das steht zu befürchten. In den nächsten 12 bis 24 Monaten dürfte es zu dramatischen Einbrüchen in der Wirtschaftskraft kommen, eine Situation, die durchaus die von 2008/2009 in den Schatten stellen könnte. Die Warnzeichen, dass es so kommt, sind klar und deutlich erkennbar. Jedes Unternehmen muss sich darauf einstellen und sich heute schon darauf vorbereiten.Selbst ohne Crash heißt es wohl in Zukunft für die Logistikbranche: Wechselkursschwankungen in der EU gehören bald wieder zum Alltag der Unternehmer …Das wird so kommen, ja. Wie sieht´s mit anderen Freiheiten aus, etwa der Warenverkehrsfreiheit oder der Arbeitnehmerfreizügigkeit?Es könnte zeitlich begrenzte Kapitalkontrollen an den Grenzen geben. Ob die Schlagbäume wieder kommen, das kann keiner vorhersagen. Ich hoffe es nicht, aber ausschließen kann man da nichts. Zum Abschluss und nach all ihrer Kritik am Krisenmanagement der Bundesregierung: Welche Note würden Sie Angela Merkel für ihre Politik geben?Das ist schwer zu sagen. Ich würde auf jeden Fall nicht tauschen wollen – denn einfache Lösungen gibt es nicht. Man könnte sicherlich vieles besser machen, aber ob andere Personen an ihrer Stelle das dann auch machen würden? Merkel kommt nicht aus dem wirtschaftswissenschaftlichen Bereich und ist dadurch auch vom Know-how ihrer Berater abhängig. Und dass die Wirtschaftswissenschaft kein guter Berater ist, zeigt ja der Streit um den Brief einiger Kollegen zur Bankenunion: Merkel bekommt Ratschläge, die sich komplett widersprechen – eine riesige Kakophonie. Zusätzlich hat sie als Naturwissenschaftlerin ihre eigene Herangehensweise, sie macht kleine Schritte, wie sie es als Physikerin gewohnt ist und dreht an einigen Stellschrauben des Experiments und schaut, was passiert. Im Übrigen habe ich als Experte gut reden: Wenn ich falsch liege, dann hat sich eine These in Luft aufgelöst und ich sage „sorry“. Wenn Merkel falsch liegt, steht in den Geschichtsbüchern, dass sie Europa gegen die Wand gefahren hat. Ich möchte nicht in ihrer Haut stecken. ❙❚■ Tobias RauserBörsenhändler Müller kritisiert die Beschleunigung auf dem Parkett: „Wir brauchen ein Tempolimit an den Börsen“Für Müller steht fest: Griechenland wird auf jeden Fall den Euro-Raum verlassenInterviewVitaDirk Müller Bekannt wurde der 1968 geborene Börsenmakler einem breiteren Publikum als „Mister Dax“. Der einfache Grund: Sein Arbeitsplatz auf dem Frankfurter Börsenparkett war so platziert, dass Fotografen häufig seinen Gesichtsausdruck gemeinsam mit dem Kursverlauf auf der Dax-Kurstafel einfingen. Bis 2008 arbeitete der gelernte Bankkaufmann an der Börse, anschließend machte er sich selbstständig und verdient sein Geld nun als Geschäftsführer der Finanzethos GmbH, die die Website Cashkurs.com betreibt und Börsenbriefe verlegt. Zusätzlich hält Müller Vorträge und hat zwei Bücher geschrieben („Crashkurs“ 2009, „Cashkurs“ 2011). Der Börsenexperte versteht sich selbst als „Dolmetscher zwischen den Finanzmärkten und den Menschen außerhalb der Börse“. Kritiker werfen ihm vor, mit seinen Analysen oft nur an der Oberfläche zu kratzen, seine Anhänger schätzen hingegen seine klare und deutliche Sprache, die auch Nicht-Börsen-Experten verstehen. trInterviewDirk Müller über „Mister Dax“ ist kein Freund des Euro

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