Kommt die Revolution der Logistik?

Seit jeher steht im Handel das Endkunden-Bedürfnis im Zentrum des unternehmerischen Handelns. Denn Endkunden verzeihen keine Leistungsschwäche. Im Gegenteil: Ihre Service-Ansprüche an die Handelsunternehmen werden immer größer - nach der Devise "Einmal, immer wieder oder ansonsten nie wieder!" Dies gilt umso mehr für die Generationen Z und Alpha, also die Kunden der Zukunft. Vor allem im Onlinehandel haben sich die Geschäftsmodelle durch die hohen Convenience-Erwartungen der Endkunden massiv gewandelt. Da lautet die Maxime, "alles immer überall schnell zu bekommen" - also "on demand". Kunden erwarten also personalisierte Ansprachen, Beratungen, Produkte und Services. Sie wünschen sich nachhaltig produzierte Produkte und nachhaltig erbrachte Dienstleistungen. Ihre Haltung ist nachhaltig orientiert, ihr Handeln und ihre Zahlungsbereitschaft aber oftmals nicht. Gleichzeitig steigt die Wechselbereitschaft und die Illoyalität der Kunden gegenüber Händlern, für die langfristige Kundenbindung immer schwieriger, aufwendiger und teurer wird. Dies betrifft den Stationär- und den Onlinehandel, aber auch neue Welten, wie etwa Social-Commerce-Anwendungen und das Metaverse. Temu: Benchmark der Zukunft? Stellvertretend für diese Entwicklung steht die Social-Commerce-Plattform "Temu" aus China. Dabei handelt es sich nicht um eine typische Shopping-App (wie Amazon oder Zalando) und auch nicht um eine weitere Social-Media-Anwendung (wie TikTok oder Instagram), sondern um eine intelligente Kombination aus beidem. Temu unterscheidet sich deutlich von den uns bekannten Shopping-Apps im E-Commerce, indem das Unternehmen bewusst auf eine Mischung aus Social-Media-initiierter Bedarfsweckung (über TikTok), spielerischem Einkaufen (Gamification) und einem intelligent lancierten Schneeball-Prinzip (über Affiliate-Codes) setzt. Temu fokussiert die Befriedigung grundlegender menschlicher Bedürfnisse und Triebe: Kommunikation, Neugier und Belohnung sind die heimlichen Eckpfeiler des Geschäftsmodells und sollen für schnelles Wachstum sorgen. In Europa und den USA gibt es derzeit keine vergleichbare Social-Commerce-Plattform, die die Klaviatur aus Kundenansprache, Awareness und Artikelspektrum - auf Basis hoher Data Excellence - so gut vereint und bespielt wie Temu. Das Unternehmen könnte also ein Benchmark für die zukünftige Entwicklung des Onlinehandels in Richtung eines "Discovery Based Online Shopping" sein, in dem auch das Metaverse als integrierter Bestandteil seinen Platz finden könnte. Darunter versteht man die Integration des realen in das digitale Leben. Das Metaverse schafft virtuelle Räume, in denen wir arbeiten, spielen, entspannen, Transaktionen abwickeln und Kontakte knüpfen können. In diesen nutzerspezifischen Digital-Welten, zum Beispiel auf den Spiele-Plattformen Roblox oder Fortnite, kann man zunehmend auch digitale Konsumgüter wie Bekleidung des Avatars, Ausstattung der virtuellen Wohnung und Dienstleistungen erwerben (zum Beispiel Gucci Town). Für Händler und vor allem Hersteller ergibt sich ein neuer Absatzkanal, der zusätzliche Erlöse verspricht. Die sich aus alledem ergebenden Veränderungen in der Handelslogistik lassen sich im Folgenden anhand von fünf zentralen Thesen zusammenfassen. These 1: Endkunden wollen Adaptivität, Resilienz und Verfügbarkeit Flexibilität und Robustheit in Verbindung mit Waren- und Serviceverfügbarkeit - das sind die Faktoren, die die Kunden der Handelslogistik künftig am intensivsten wertschätzen. Das ist eine unmittelbare Erkenntnis aus den geopolitischen Herausforderungen, den zunehmend brüchigen Geschäftsbeziehungen zu Lieferanten und dem kaum noch zu prognostizierenden Kaufverhalten der immer illoyaleren (End-) Kunden. Dabei gewinnen durchgängige Auftrags- und Liefertransparenz (vor allem die valide Anlieferprognose) weiter erheblich an Bedeutung. Eine möglichst schnelle oder angemessene Lieferzeit nimmt künftig neben der Nachhaltigkeit die Rolle eines "Hygienefaktors" ein. Beide werden mehr oder weniger stillschweigend vom Kunden vorausgesetzt und lösen nur eine Reaktion aus, wenn sie nicht erfüllt werden. These 2: Lieferservice-Angebote werden immer individueller und datenbasierter Lieferservices werden stärker individualisiert in Bezug auf Orte, Zeiten und Zustelltage der Kunden. Künftig wird man immer mehr Geschäftsmodelle im Onlinehandel finden, die nach dem Prinzip "sell everywhere, deliver anywhere" eine noch intensivere Personalisierung von Services anbieten. Zur Erbringung solcher Services ist Kundennähe essenziell, geografisch und datenbezogen. Damit sind vor allem Daten über das Kaufverhalten entlang der Customer Journey, logistische Präferenzen, kundenindividuelle Lebenssituationen, regionale Sortimentsspezifika sowie zukünftige Bedarfe gemeint. Dies untermauert den schon seit Jahren zu erkennenden Trend einer weiteren Dezentralisierung von Logistiknetzen, um Bestände möglichst kundennah zu positionieren und Bedürfnisse schneller und flexibler erfüllen zu können. Gleichzeitig spielt die Transparenz über nachhaltiges Wirtschaften als "New Normal" eine entscheidende Rolle für Handelslogistiker. Langfristig besteht die Erwartungshaltung einer vollständigen artikelbezogenen Transparenz ökologischer Effekte, sodass ökologische und soziale Nachhaltigkeit zur "License to operate" in der Handelslogistik werden. These 3: Hohe Convenience-Erwartungen aus B2C werden auf B2B übertragen Die Commoditisierung von Lieferservices geht weiter, wobei sich die hohen Convenience-Erwartungen aus dem B2C-Handel rasant auf alle B2B-Geschäfte übertragen. Man kann von einer ausgeprägten Gefahr der Commoditisierung von Services sprechen, bei denen kostenlose und qualitativ hochwertige Dienstleistungen vom Endkunden vorausgesetzt werden, allerdings kaum Zahlungsbereitschaft vorhanden ist. Als Konsequenz ergibt sich eine Service-Entwertung, wie wir sie unter anderem bei für den Kunden kostenlosen Zustellungen, Retouren, Sonderabwicklungen oder auch außerordentlicher Umtausch-Kulanz großer Händler kennen. Die aggressiven, auf Umsatzwachstum und Marktverdrängung ausgerichteten Strategien der lokalen Lebensmittel-Lieferdienste (Quick-Commerce) haben diese Fehlentwicklung in den letzten Jahren nochmals verstärkt, in dem die logistische Abwicklung für den Kunden - wenn überhaupt - nur marginal bepreist wurde. Festzustellen ist zudem, dass sich die Commoditisierung sukzessiv vom B2C-Bereich auf alle B2B-Geschäfte ausweitet. Bei vielen B2B-Unternehmen ist dieser Effekt schon im vollen Gange. Viele B2B-Logistik-Entscheider übertragen ihre persönlichen B2C-Service- und "Kostenlos"-Erwartungen auf die eigenen B2B-Geschäfte und verstärken damit den Commoditisierungs- beziehungsweise Entwertungs-Effekt logistischer Dienste. Insofern wird es zukünftig vor allem darum gehen, gemeinsam Lösungen zu finden, logistische Leistungen und Services angemessen zu bepreisen, um einer weiteren Abwertung von Lieferservices als purem Instrument der Marketing-Politik ("Lieferung und Sonderleistungen kostenlos und inklusive") von Händlern entgegenzuwirken. These 4: "Kanal Egal"-Einstellung wird Kaufverhalten der Endkunden bestimmen Die Balance von Effizienz und Kunden-ansprüchen im Front- und Backend von Omnichannel-Händlern muss neu definiert werden. Die Verschiebung von Stationär-Umsätzen in den Onlinehandel geht weiter, wenn auch langsamer als in den letzten Jahren. Gleichzeitig regiert die FOMO-Angst: Fear of missing out oder die Angst, etwas zu verpassen. Nicht alles, was Mainstream ist, macht auch Sinn für das eigene Unternehmen. Dies betrifft zum Beispiel die hohen Investitionen in Stores und Services sowie die teils unbedachten und von Kunden kaum wahrgenommenen Service-Angebote. In den Generationen Z (geboren zwischen 1995 und 2010) und Alpha (von 2010 bis 2025) findet Bedarfsweckung schon heute intensiv über Social Commerce (Beispiel Temu), Social-Media-Apps und zunehmend im Metaverse statt. Künftig wird eine "Kanal Egal"-Einstellung das Kaufverhalten der Kunden bestimmen. Händler müssen deshalb fit für den Omnichannel-Handel werden, in dem die Absatzkanäle technisch und organisatorisch integriert werden. Nach dem Motto "Kunde vor Kanal" geht es darum, den Kunden in den Fokus zu stellen und nicht die Machbarkeiten und Optimierungen der eigenen Organisation. Technologien sind die Enabler zur Lösung des Spannungs-feldes zwischen Effizienz und Kundenzentrierung. Entscheidend wird sein, nicht nur physische Logistikprozesse durch Automatisierung und Robotik zu verbessern, sondern auch den Rückenwind der Algorithmus-Welle zu nutzen. Planungs-, Prognose- und Echtzeit-Technologien auf Basis von KI versprechen teils größere Effekte als die vor allem vom Mitarbeitermangel geprägte Automatisierung operativer Prozesse. Es geht dabei um strategische Planungs-Exzellenz, aber auch um die Bereitstellung echtzeitnaher Informationen für die Operation der Handelslogistik auf Basis möglichst präziser Prognosen und Bestell- beziehungsweise Bestandstransparenz über alle Funktionen und Kanäle hinweg. Flankiert werden müssen derartige Vorhaben von einem permanenten, langfristig verankerten Innovations-Mindset. Durch vordefinierte Strukturen, Prozesse und Systeme erreicht man zwar schrittweise Veränderungen, aber keine disruptiven Innovationen. Wirksamer sind Investitionen in Ökosysteme mit Start-ups, Inkubatoren und Technologie-Partnerschaften. Erforderlich dazu ist ein Kulturwandel in oftmals traditionell, hierarchisch geführten Unternehmen, der eine ausgeprägte Trial-and-Error-Kultur und kurze Entscheidungswege voraussetzt. These 5: Logistik wird im Handel zum Differenzierungs-Merkmal Die flexible Anpassung an Hoch- und Unterauslastungs-Situationen ist ein entscheidender Erfolgsfaktor für die operative Skalierbarkeit und Effizienz in der Handelslogistik und stellt einen maßgeblichen Treiber für Outsourcing dar. Viele Händler definieren Logistik bereits als strategisch relevantes, differenzierendes Merkmal im Wettbewerb. Gleichwohl betreiben sie aus Kosten- und Risikogründen auf der ausführenden Ebene der Lager- und Transportabwicklung umfassendes Outsourcing. Ihre Motivationen liegen vor allem in ganzheitlicher Kunden- und Datenhoheit sowie in der Möglichkeit, Innovationen in eigenen hierarchischen Systemen schneller ausprobieren und umsetzen zu können als in marktorientierten Systemen mit externen Partnern. Zur Abfederung des Auslastungs- und Kostenrisikos in eigenen Logistiknetzen öffnen Händler zunehmend ihre Systeme für andere Händler und Hersteller im Sinne eines Fulfillment-by-Ansatzes (wie etwa Amazon Logistics, Metro MGL, Walmart, Otto, TikTok). Zahlreiche andere Marktakteure vergeben dagegen logistische Leistungen allein aus Gründen der Skalierbarkeit, des Know-hows, der Professionalisierung und aus Kostengründen an Logistikdienstleister. Die Schlussfolgerungen, die sich daraus für Händler ergeben: - Operative Robustheit, Flexibilität und ausgezeichnete Prognose-Kompetenzen werden in der Handelslogistik unabdingbar - End-to-End-Datenkompetenz, Innovationen und eine Trial-and-Error-Kultur werden zu "Commodities" in der Handelslogistik - Ökologische und soziale Nachhaltigkeit werden zur "License to Operate" in der Handelslogistik Damokles-Schwerter über KEP-Diensten Für die Paketdienste folgte nach dem Online-Hype in der Corona-Zeit nun 2022 und auch 2023 ein mengen- und umsatzbezogener Rückgang - insbesondere durch die Konsumschwäche hierzulande aus bekannten Gründen wie Ukraine-Krieg und Inflation. Gleichzeitig steigen die Kundenanforderungen - und zwar generationenübergreifend - an Paketdienste weiter; Schlagworte hier: Next-Day-Lieferung, Convenience, Service-Differenzierung, Liefertransparenz und Nachhaltigkeit. Hinzu kommt, dass durch den Online-Hype der letzten Jahre die Paketmengen zwar gestiegen sind. Allerdings hat dies nicht zu deutlich mehr Ertrag bei den Paketdiensten geführt, sondern den Wettbewerb weiter intensiviert. So haben B2B-Paketdienste ihre B2C-Angebote teils weiter ausgebaut (wie DPD, GLS). Zudem versuchen neue Wettbewerber aus dem Onlinehandel (wie Amazon Logistics), aus dem Fulfillment-Bereich (Fiege Now) und der lokalen Auslieferung (wie Liefergrün), Marktanteile zu gewinnen. Dazu kommt die nach wie vor bestehende Unausgewogenheit des Marktes, in dem ein freier Wettbewerb durch die Verbundeffekte und die Quersubventionierung aus dem Briefgeschäft erschwert wird. Im Ergebnis lässt sich im KEP-Markt also eine intensive Wettbewerbssituation diagnostizieren, die zu einer ruinösen Konkurrenz und einem permanenten Zyklus aus Kapazitätserhöhung und Unterauslastung führt. In Zeiten von Überkapazitäten wird es also stets einen Marktakteur geben, der vor allem den mengenstarken Onlinehändlern ein noch günstigeres Angebot unterbreitet. Dies verhindert dauerhaft auskömmliche Margen für alle KEP-Dienste. Zuletzt schweben gleich mehrere Damoklesschwerter über der Branche, die sich aus einem zunehmend strikteren regulatorischen Rahmen ableiten lassen. Dazu gehören weitere Mindestlohn- und Maut-Erhöhungen, ein strengerer Umgang mit Subunternehmen und zahlreiche Maßnahmen zur Steigerung der Öko-Transparenz und zur Reduktion des CO2-Fußabdrucks - mit entsprechendem Kosten-, Handlungs- und Erlösdruck für die KEP-Dienste. Es bleiben zwei Hoffnungen: erstens die möglichst schnelle Rückkehr zum Vor-Corona-Wachstumspfad und zweitens eine wettbewerbsfördernde Postgesetz-Novelle. Denn KEP-Dienste haben meist kein Kostenproblem, sondern eher die erlösseitige Herausforderung viel zu niedriger Preise. Klar ist aber: KEP-Dienste müssen ihre Geschäftsmodelle modifizieren und diversifizieren, um der Kosten-Preis-Spirale zu entkommen. Es reicht wohl künftig nicht mehr aus, sich allein auf Paketzustellung zu konzentrieren. In der Erweiterung der Geschäftsmodelle entlang der Supply Chain der Handels- und Konsumgüter-Industrie liegen erhebliche Chancen für die "Effizienz-Könige" der KEP-Branche zur Reduzierung ihrer Auslastungs- und Mengenabhängigkeiten vom reinen Paketgeschäft. Bei einigen Marktteilnehmern ist mit der Kombination von KEP-Abwicklung und Fulfillment-Angeboten der Anfang schon vollzogen. Weitere Möglichkeiten liegen etwa in der regionalen Belieferung von Apotheken und kleineren Großhändlern, die Endkunden direkt aus dem Bestand ihrer lokalen Geschäfte beliefern (Ship-from-Store). Christoph Tripp, Professor für Distributions- und Handelslogistik an der Technischen Hochschule Nürnberg Georg Simon Ohm

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