Ein schlafender Riese

Indien: ein Staat, aber zugleich fast auch ein Kontinent. Flächenmäßig ist es das siebtgrößte Land der Erde. Noch weiter oben steht das Land in der Rangliste der Staaten mit den meisten Einwohnern. Nur in China leben mehr Menschen als in Indien. Damit ist Indien die bevölkerungsreichste Demokratie der Welt. Die Kanzlerin sieht noch Luft nach oben Ein Land mit so vielen Einwohnern ist natürlich auch interessant als Absatzmarkt. Zumal die Zahlen zeigen, dass es noch einen großen Nachholbedarf gibt: Im Vergleich zu China, das bezogen auf die Bevölkerung nur einen kleinen Vorsprung hat, liegt Indien bei der Erwirtschaftung des Bruttoinlandsprodukts noch um Längen hinter dem Reich der Mitte (siehe Tabelle Seite 23). Indien birgt also noch ein großes Potenzial. Das sieht die Politik in Deutschland genauso. Auch deshalb finden alle zwei Jahre auf höchster Ebene Konsultationen zwischen Deutschland und Indien statt, bei denen die Wirtschaftsbeziehungen der beiden Staaten eine zentrale Rolle spielen. Beim letzten Treffen Ende November diesen Jahres in Neu-Delhi war auch die Bundeskanzlerin wieder dabei. "Ich glaube, dass unsere Zusammenarbeit noch deutlich mehr Potenzial hat", sieht auch Angela Merkel noch Luft nach oben im wirtschaftlichen Miteinander. Und mit Blick auf die nächsten Jahre zitierte sie eine Prognose, nach der Indien 2030 mehr Einwohner haben werde als China. Dass der Handel zwischen Deutschland und Indien ausbaufähig ist, macht der Blick in die Außenhandelsstatistik deutlich. In der Rangfolge der wichtigsten Abnehmerländer für deutsche Waren liegt Indien nur auf Platz 23. Waren im Wert von 12,5 Milliarden Euro haben deutsche Unternehmen 2018 nach Indien exportiert, nach China hingegen betrug dieser Wert 93,0 Milliarden Euro. Ähnlich das Bild in der Statistik für den Warenimport. In dieser Rangliste liegt Indien auf Platz 27 mit einem Warenwert von 8,9 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Für Produkte Made in China haben deutsche Abnehmer 2018 mehr als das Zehnfache bezahlt (106,1 Milliarden Euro). Doch auch wenn diese Zahlen darauf hinweisen, dass Indien für Unternehmen ein vielversprechender Markt ist: Die Frage ist, ob sich ein Engagement in Indien für einen Logistikdienstleister tatsächlich lohnt. Denn die Marktdaten einerseits und die tatsächlichen Gegebenheiten mit Markteinstiegshürden andererseits, das können ein Paar ganz verschiedene Schuhe sein. Einer, der sich gut auskennt im indischen Transport- und Logistikmarkt, ist Willem van der Schalk. Er ist CEO der Spedition A. Hartrodt mit Sitz in Hamburg und unter anderem als Regional Manager Middle East & Indian Sub-Continent auch für Indien zuständig. Seit zwanzig Jahren reist er drei bis fünf Mal im Jahr beruflich in das Land. A. Hartrodt hat in Indien sieben Niederlassungen und beschäftigt vor Ort 89 Mitarbeiter, die allesamt aus Indien stammen. Das Unternehmen ist weltweit tätig als Spediteur ohne eigenes Equipment. Auch in Indien arbeitet A. Hartrodt mit Subunternehmen zusammen. "Katastrophaler Zustand" der Straßen Van der Schalk teilt den Optimismus vieler über Indien. "Indien ist über Jahre unterschätzt worden", lautet seine Einschätzung für die Gesamtwirtschaft wie auch für den Transportsektor. "Das Land wird wachsen, wenn auch langsam, aber im internationalen Vergleich immer bedeutsamer werden", prognostiziert er. "Allerdings liegt auf dem Weg dorthin noch eine Menge Arbeit vor Indien." Denn die Rahmenbedingungen sind schwierig. "Die Infrastruktur ist zum Teil in einem katastrophalen Zustand", sagt van der Schalk. Damit meint er vor allem die Straßen. Autobahnen wie in Deutschland gibt es nicht, genauso wenig ein Netzwerk mit Stückgutkooperationen wie in Europa. Selbst manche Zubringerwege zu großen Fabriken würden in Indien eher Ackerwegen denn geteerten Straßen gleichen. "Die Mängel in der Infrastruktur verhindern, dass Waren schnell transportiert werden", schildert van der Schalk die Folgen. Das gilt aber nicht nur für die Landverkehrswege, sondern auch für die Seehäfen. "Die Abläufe dort sind deutlich langsamer als beispielsweise in den chinesischen Häfen", sieht er auch hier ein Manko, das es zu beseitigen gilt. Ein Bremser der wirtschaftlichen Entwicklung Indiens ist auch der Hang zur ausgeprägten Bürokratie. Computer sind zwar laut van der Schalk vielfach vorhanden. Aber dennoch müssten immer wieder Formulare auf Papier ausgefüllt werden. "Für viele Vorgänge werden trotz Digitalisierung Hunderte von Unterschriften, Stempel und Unterlagen benötigt", kritisiert der Indien-Kenner. Nicht zu unterschätzen sei auch das Klima. "Das ist ohne Frage ein Nachteil, auch im Vergleich zu China", so der CEO von A. Hartrodt. Wenn der Monsun komme, seien Überschwemmungen die Regel. Das erschwert nicht nur den Transport. "Wir raten allen unseren Kunden, ihre Ware wetterfest zu verpacken", nennt er eine weitere Folge der kräftigen Regenfälle. Angesichts dieser zahlreichen Hürden mag es verwundern, dass van der Schalk die Aussichten für Indiens (Transport-) Wirtschaft dennoch als positiv beurteilt. Aber auch dafür gibt es gute Gründe. "Das Land hat eine sehr junge Bevölkerung. Im Gegensatz zu China mit seiner Ein-Kind-Politik gibt es solche Einschränkungen nicht." Die Folge: Mit dem Bevölkerungswachstum geht eine zunehmende Konsumnachfrage einher. Ein weiterer Vorteil des Landes ist das Bildungsniveau, "das extrem hoch ist", wie van der Schalk formuliert. Nicht umsonst kämen viele Informatik-Experten aus Indien, wo sich die "Kaderschmieden der IT" befänden. "Da sehe ich eine große Chance für das Land." Große Logistikzentren stark gefragt Dass eine funktionierende Logistik eine wichtige Voraussetzung für wirtschaftliches Wachstum ist, diesem Zusammenhang trägt Indien mit seinem Premierminister Narendra Modi an der Spitze immer stärker Rechnung. So ist seit 2018 in Indien die Mehrwertsteuer auf Produkte und Dienstleistungen vereinheitlicht worden. Davor hatte jeder der 29 Bundesstaaten seine eigenen Steuersätze. Die Folge waren zum Teil stundenlange Wartezeiten für Lkw an den innerindischen Grenzen, um Steuern nachzuzahlen. Ein anderer Nachteil: Die Unternehmen hatten in jedem Bundesland Lager eingerichtet, um den Steuerprozeduren zu entgehen. "Die waren zum Teil so klein, dass manche den Namen ,Lager' kaum verdienten", schildert van der Schalk. Schon im Vorfeld der Umsetzung der Steuerreform wurden größere Logistikzentren errichtet. Dieser Trend hält laut van der Schalk weiterhin an. Für die Logistiker ein neues Betätigungsfeld. Damit verbunden ist zudem eine effizientere Abwicklung der Lager- und Logistikprozesse. Wer als Logistikdienstleister mit dem Gedanken spielt, sich auf dem Subkontinent zu engagieren, dem empfiehlt van der Schalk ein behutsames Vorgehen. "Ohne Partner vor Ort den Schritt zu wagen, ist ganz schwierig." Selbst die großen Dienstleister aus Europa hätten fast alle entweder eng mit Partnern gearbeitet oder große indische Transportdienstleister aufgekauft, um so über ein intaktes Netz und gute Kenntnisse im indischen Markt zu verfügen. Daher warnt er auch davor, auf eigene Faust vorzugehen und als Neueinsteiger sofort eine Niederlassung zu gründen. Denn der indische Markt sei besonders: ob es nun das englische Recht ist, das dort gilt, oder das Klima oder die Größe des Landes. Nicht zu vergessen eine andere Kultur, die sich auch im Geschäftsleben bemerkbar macht: "Die Inder sagen nahezu nie 'nein' und improvisieren gerne. Das können sie auch, aber ob dann das Ergebnis immer das ist, was man gerne gehabt hätte, das steht auf einem anderen Blatt", schildert van der Schalk ein Beispiel. Aber er bleibt dabei: Indien ist ein Markt, der für die Zukunft einiges verspricht und für Logistikdienstleister interessante Wachstumschancen bietet. Mehr zum Thema finden Sie unter #Indien www.verkehrsrundschau-plus.de/hashtag In Kürze Die Politik in Indien zeigt sich unternehmerfreundlich. Eine Steuerreform und mehr Investitionen in die Infrastruktur sollen dazu beitragen, die Prozesse in der Wirtschaft und damit in der Logistik zu verbessern. Die Experten sind sich einig: Angesichts der hohen Einwohnerzahl und des vergleichsweise geringen Bruttoinlandsprodukts wird die Wirtschaft in Indien spürbar wachsen. Deutsche Logistiker haben Indien im Blick Wer als deutscher Logistikdienstleister sich einen Einblick verschaffen möchte, welches Potenzial der indische Markt tatsächlich bietet, der hat dazu im kommenden Jahr eine gute Gelegenheit: Die Logistics Alliance Germany (LAG) plant vom 24. bis 28. Februar 2020 eine Delegationsreise nach Mumbai in Indien. Im Rahmen dieser Reise steht auch der Besuch der Messe "transport logistic India @CTL 2020" auf dem Programm. Die Reise richtet sich an deutsche Unternehmen aus der Logistikwirtschaft, die unter anderem den LAG-Messestand für Gespräche nutzen können. Außerdem besteht die Möglichkeit, an Besichtigungsterminen teilzunehmen sowie B2B- und Roundtable-Gespräche mit hochrangigen Entscheidern vor Ort führen zu können. Die Delegation leiten wird der parlamentarische Staatssekretär beim Bundesminister für Verkehr und digitale Infrastruktur und Koordinator der Bundesregierung für Güterverkehr und Logistik Steffen Bilger. Anmeldung und Infos unter: LAG, 030 / 58 58 458 - 58, info@logistics-alliance-germany.de.Logistikmesse in Delhi mit 5000 BesuchernZur letzten Messe CTL 2018 in Delhi kamen 5000 Besucher. Etwa 100 Unternehmen aus dem In- und Ausland präsentierten ihre Leistungen, wobei die meisten aus Indien kamen. Auf der Messe dreht sich viel um das Thema Seefracht, weshalb der Anteil an Heavy-Lift-Ausstellern hoch ist. cd