Oberster Wissenschaftler

InterviewOberster Wissenschaftler im StraßenverkehrDer neue Präsident der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt), Stefan Strick, verantwortet jedes Jahr rund 700 Forschungsprojekte im Bereich Straßenverkehr. Im Interview spricht er über zwei dieser Projekte: den Feldversuch mit Lang-LKW und die Unfallforschung. Herr Strick, Sie sind seit einem halben Jahr im Amt und seit 60 Jahren der erste Jurist in dieser Position. Bisherige BASt-Präsidenten waren immer Ingenieure. Lässt sich daraus schließen, dass rechtliche Aufgaben für die BASt mittlerweile eine größere Rolle spielen als die technischen?Nein, das kann man so nicht sagen. Es ist zwar tatsächlich ein Novum, dass ein Jurist an die Spitze dieser Institution gestellt wurde, aber nicht zwingend aus rechtlichen Aspekten. Wir sind eine wissenschaftlich-technische Forschungseinrichtung, die die Politik berät. Seit über 20 Jahren arbeite ich in der Bundesstraßenverwaltung. Rechtliche Probleme bei Verträgen mögen sich in der Zeit etwas erhöht haben, aber das war für meine Berufung sicherlich nicht ausschlaggebend. Wofür wurde die BASt ursprünglich ins Leben gerufen?Anlass war 1953 die Erkenntnis, dass auf dem Gebiet des Straßenbaus – früher hießen wir ja Bundesanstalt für Straßenbau – doch sehr viele Innovationen zu erwarten und zu begleiten seien. Die ursprüngliche Aufgabe der BASt ist deshalb gewesen, Bauprodukte zu prüfen, Bauverfahren zu bewerten und Aussagen zum Baugrund treffen zu können. Mit der Zeit haben sich die Aufgaben dann erweitert. In der Hochphase der Unfalltoten Anfang der 70er Jahre kam mit der Unfallforschung ein weiterer heutiger Schwerpunkt zur Bundesanstalt für Straßenwesen.Was sind eigentlich die Hauptursachen für Unfälle im Güterverkehr?Das sind neben komplexen Fahrsituationen wie Rückwärtsfahren oder Einscheren nicht angepasste Geschwindigkeiten. Dramatisch sind außerdem unerwartete Bremssituationen auf der Autobahn. Hier kann es schnell zu schweren Unfällen kommen. Deswegen versprechen wir uns auch vom Notbremssystem und dem Spurhaltewarnsystem, die wir mitentwickelt haben, eine deutliche Reduktion der Unfallzahlen. Diese beiden Systeme werden ab 2013 beziehungsweise 2015 ja Pflicht bei neuen LKW. Bis sich diese Technik positiv bemerkbar macht, wird es sicherlich noch eine ganze Weile dauern, oder?Ich rechne damit, dass es sich nicht vor dem Jahre 2020 so richtig spürbar ausgewirkt haben wird, einfach weil ein LKW-Fahrer seinen Truck sicherlich für fünf oder sechs Jahre fahren wird, bevor er ihn ersetzt.Gibt es weitere Sicherheitssysteme, die eines Tages Pflicht werden könnten? Ja, zum Beispiel ein Müdigkeitswarner. Augen, Pupillen und Lid des Fahrers werden beobachtet und warnen vor einem drohenden Sekundenschlaf. Diese Technik – das wissen wir von der Fahrzeugindustrie – lässt sich eines Tages in die Praxis umsetzen, aber noch ist man in der Entwicklung nicht ganz so weit. Die BASt kostet den Steuerzahler rund 36 Millionen Euro im Jahr. Lohnt sich diese Investition für Deutschland?Wir haben seit unserer Gründung viel erreicht. Im Jahr 1970 lag die Zahl der jährlichen Verkehrstoten bei über 21.000. Vierzig Jahre später konnten wir mit deutlich weniger als 4000 Verkehrstoten einen Tiefstand vermelden. Die Zahlen belegen, wir sind dem Auftrag, eine zentrale Unfallforschung zu betreiben, sehr erfolgreich nachgekommen. Positiv haben sich sicherlich auch Sicherheitsgurte oder ESP ausgewirkt, die von uns gemeinsam mit der Fahrzeugindustrie angestoßen und vorangebracht wurden. Von Vorteil für den Standort Deutschland sind auch unsere Arbeiten in der Straßenbautechnik. Leisere Straßenbeläge werden von der BASt mitentwickelt, um eine Lärmminderung von garantierten fünf Dezibel und Spitzenwerten von acht bis zehn Dezibel zu erreichen. Das sind einige von vielen Beispielen für unsere erfolgreiche Arbeit. Im vergangenen Jahr hat die BASt rund 700 Forschungsprojekte bearbeitet. Wie viele davon betreffen die Logistikbranche?Ich denke, dass rund 35 Prozent unserer Projekte relevant für die Logistikbranche sind, wobei die Grenze oft schwer zu ziehen ist. Wenn wir zum Beispiel Untersuchungen über die Beleuchtung, über Straßenmarkierung oder über passive Schutzeinrichtungen durchführen, dann ist das natürlich auch für den LKW von Bedeutung, aber nicht nur. In diesem Jahr kommt ein weiteres Forschungsprojekt hinzu: der Lang-LKW-Feldversuch. Wie viele dieser Fahrzeuge rollen schon auf deutschen Straßen?Mitte April gab es Anmeldungen von sechs Unternehmen. Sind Sie überrascht, dass es bisher nur so wenige Anmeldungen sind?Nein, denn es sind ganz bestimmte Voraussetzungen zu erfüllen. Die Speditionen müssen sich genau überlegen, ob sie diese Fahrzeuge mit der gesamten Ausrüstung anschaffen. Es ist ja auch so, dass nicht das gesamte Straßennetz für den Lang-LKW zur Verfügung steht, sondern nur ganz bestimmte Strecken. Und letztendlich geht es dann ja auch um die Logistikroute des jeweiligen Unternehmens und wie kombiniert werden kann. Das Verkehrsministerium überarbeitet gerade das Streckennetz. Dann kann die Teilnahme an dem Versuch für mehr Speditionen möglich werden. ➞Wie viele Unternehmen oder rollende Fahrzeuge benötigen Sie für den Feldversuch, um wissenschaftlich aussagekräftige Daten zu bekommen?Es gibt bestimmte Erkenntnisse, die man nur mit Fahrzeugen im Einsatz gewinnen kann, und es gibt andere Erkenntnisse, wie Brandschutz im Tunnel oder Anprallschutz, die über Simulation und Experimente ermittelt werden. Um zu erkennen, mit welcher Ladung die LKW unterwegs sind, brauche ich natürlich Erkenntnisse aus der Praxis. Da es fünf unterschiedliche Typen von Lang-LKW gibt, hängt die von ihnen nachgefragte Anzahl natürlich davon ab, ob alle Typen zum Einsatz kommen. Aber sicherlich brauchen wir mehr als die sechs bisher angemeldeten Unternehmen, um eine sichere Statistik ableiten zu können. Würden fünfzig oder besser einhundert Anmeldungen ausreichen, um hieb- und stichfeste wissenschaftliche Aussagen zur Sicherheit der Lang-LKW treffen zu können?Ja, ich denke einhundert Anmeldungen müssten ausreichen, um die meisten Fragen zu beantworten. Genau lässt sich dies aber erst sagen, wenn wir wissen, welche Strecken befahren werden, wie die Routenplanung von den Speditionen aussieht, und eben wie viele unterschiedliche Fahrzeugtypen kommen. Eine genaue Zahl kann ich Ihnen deshalb zu Beginn dieser wissenschaftlichen Begleitung noch nicht nennen. Was sind die drei wichtigsten Kernfragen, die Sie in diesem Lang-LKW-Feldversuch beantworten wollen?Die erste Frage wäre: Welche von den behaupteten Sicherheitsrisiken bestehen tatsächlich? Denn das ist ja der Grund für den Versuch. Zweitens: Welche Möglichkeiten haben wir, dem entgegenzuwirken? Wenn wir ein Risiko erkennen, dann möchten wir natürlich auch eine Antwort geben, wie das Risiko gemindert oder ausgeschaltet werden kann. Und die dritte Frage ist, ob wir Möglichkeiten und Chancen des Lang-LKW innerhalb des Verkehrsablaufes erkennen. Gibt es auch Vorteile und nicht nur Risiken? Vorteile sowohl sicherheitstechnischer Art als auch in Sachen Umweltschutz. Auf diese Fragen würde ich gerne am Ende der fünf Jahre antworten können.Also kann es Ihrer Meinung nach sogar sein, dass der Lang-LKW sicherheitstechnisch einen Vorteil bietet, statt der vieldiskutierten Risiken?Wenn es attraktiv ist für die Spediteure, sich solche Lang-LKW zuzulegen und damit einen schnelleren Wechsel von weniger sicheren Fahrzeugen zu höherer Sicherheit zu veranlassen, dann wäre das zweifelsfrei ein Vorteil. Man muss ja auch Folgendes berücksichtigen: Wenn man eine Neuerung einführt, dann braucht es bestimmt einen Zeitraum von bis zu zehn Jahren, bis sich das im Markt spürbar auswirkt. Es handelt sich ja nicht nur um Fahrzeuge aus Deutschland, sondern sie kommen auch aus Anrainer-Staaten. Das Ganze ist ja eine EU-weite Geschichte, und wenn wir es nun mit diesem Lang-LKW schafften, neueste und sicherste Erkenntnisse schneller in den Truck zu bringen, dann wäre das auch ein Sicherheitsgewinn.Wer konkret beantwortet die Kernfragen des Feldversuchs?Wir haben hier in der BASt ein Kompetenzteam von sieben Wissenschaftlern. Das sind Ingenieure, aber auch ein Ökonom und ein Psychologe sind dabei. Wir werden die Untersuchungen zusätzlich intensiv durch externe Forschungsaufträge unterstützen. Momentan sind wir in der Ausschreibe- und Vergabephase für Institute, sich an der Feldversuch-Untersuchung zu beteiligen. Wie lange dauert der Feldversuch?Der Feldversuch ist dreiteilig angelegt: Die erste Phase, die jetzt gestartet ist, umfasst die Themen Begleitung, Befragung, Analyse, Fahrverhalten, Route und Akzeptanz und soll ungefähr ein Jahr dauern. Hier wollen wir zum Frühjahr 2013 die ersten Zwischenergebnisse vorlegen. Die zweite Phase läuft über fünf Jahre und betrifft die Unfallaufnahme sowie die Beobachtung besonderer Ereignisse. Gegen Ende des Versuchs werden wir sehen, ob wir weitere Erkenntnisse für die Auswertung der ersten Phase brauchen und was sich zwischenzeitlich ergeben hat.Es heißt, viele Bahnübergänge erfüllten nicht die Sicherheitsanforderungen, wenn ein Lang-LKW sie überquert. Stimmt dies? Es gibt heute schon LKW, die unter Berücksichtigung des zulässigen Ladungsüberhangs mit 21 Metern über Bahnübergänge fahren. Soweit ich weiß, sind auf den jetzigen Strecken für den Feldversuch keine Strecken mit zeitlich eng getaktetem Bahnverkehr enthalten, bei denen durch eine möglicherweise erforderliche Anpassung der Signalisierung Kapazitätsengpässe auftreten könnten. Es ist aber ein Punkt, der von uns beachtet wird – auch wenn wir ihn für nicht dramatisch halten. Wir werden mit den Netzbetreibern sprechen.Ist das Gewicht beim Lang-LKW ein Problem für unsere Straßen und Brücken?Das Gewicht beim Lang-LKW ist ja kein anderes als das, welches heute schon auf der Straße ist und die maximal zulässige Achslast ist auch die gleiche. Ein Lang-LKW in Deutschland wiegt wie bisherige Lastzüge 40 oder 44 Tonnen. Deshalb kann man nicht davon ausgehen, dass der Lang-LKW zu einer anderen Belastung für die Straßen und Brücken führt.In anderen Ländern sind Lang-LKW mit einem zulässigen Gesamtgewicht von 60-Tonnen unterwegs. Würde dies ein Problem darstellen? Ja, wenn wir mit einem 60-Tonner an den Start gingen, dann wäre die Frage der zusätzlichen Straßenbelastung tatsächlich gerechtfertigt. Wir haben mal eine Untersuchung zu den Auswirkungen von 60-Tonnern auf Brücken durchgeführt. Solche Fahrzeuge würden der Bausubstanz Schäden zufügen.Wie bewerten Sie generell die Straßeninfrastruktur in Deutschland?Die Straßeninfrastruktur ist in einem Zustand, in dem wir uns deutlich um die Erhaltung kümmern müssen, wenn wir nicht wollen, dass wir demnächst schlechtere Straßen haben. Momentan haben wir keinen großen Nachholbedarf, aber wir müssen darauf achten, dass wir das, was wir haben, in seinem Bestand erhalten können. Und deswegen ist das Steuern der Verkehrspolitik in die Erhaltung hinein aus meiner Sicht gerechtfertigt.Gibt es regionale Unterschiede beim Zustand der Straßeninfrastruktur?Im alten Bundesgebiet sind vor allem die Brücken stark erhaltungsbedürftig. Das wird eine Menge Geld kosten. Denn der Brückenbestand stammt zum Großteil aus den Jahren 1960 bis 1980. Reicht der Verkehrsetat, um alle Erhaltungsmaßnahmen durchführen zu können?Ich glaube, Sie finden niemanden, der Ihnen nicht sagt, der Finanzbedarf könnte höher sei. Und es gibt ja auch nicht umsonst immer die Diskussion um eine mögliche PKW-Maut und um einen Finanzkreislauf Straße. Sicherlich wird man mit dem Niveau, das man jetzt hat, mit intelligentem Management den Status quo halten können. Mit einer bis eineinhalb Milliarden höheren Finanzmitteln im Verkehrsetat würde das aber deutlich leichter fallen. Wenn wir noch darüber hinausgehen, müssten wir uns wieder die Frage stellen, ob wir überhaupt in der Lage wären, das alles umzusetzen. Wir müssen das dann ja auch „verbauen“. Von daher ist die Diskussion um einen Etat von sechs bis sieben Milliarden Euro für die Straße die richtige Größenordnung und gleichzeitig auch die Unterkante, die man nicht unterschreiten sollte. ❙❚■ Britta Winkgens, Andre Kranke Strick im Gespräch mit der VerkehrsRundschau-Redaktion: Britta Winkgens und Andre KrankeSeit einem halben Jahr Präsident der Bundesanstalt für Straßenwesen: Stefan StrickVitaStefan Strick Stefan Strick (52) ist seit Oktober 2011 neuer Präsident der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt). Der gebürtige Kölner und gelernte Rechtsanwalt war zuvor zwanzig Jahre in verschiedenen Positionen im Bundesverkehrsministerium tätig, zuletzt als Leiter der Unterabteilung „Straßenbaupolitik, Straßenplanung und Straßenrecht“. Strick ist auch Autor diverser Fachpublikationen zum Thema „Lärmschutz“. Strick ist außerdem Aufsichtsratsvorsitzender bei Easy-Way (EW SPB), einem europäischen Projekt zur Förderung der Einführung Intelligenter Transportsysteme in Europa. akDie BehördeBundesanstalt für Straßenwesen (BASt) Die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) mit Hauptsitz in Bergisch Gladbach ist ein technisch-wissenschaftliches Institut des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS), das dem Ministerium wissenschaftlich gestützte Entscheidungshilfen in technischen und verkehrspolitischen Fragen gibt. Straßenbautechnik, Fahrzeugtechnik, Unfallforschung und die Sicherheit in Brücken und Tunneln zählen zu den Forschungsbereichen. Die BASt beschäftigt rund 400 Mitarbeiter, zu denen unter anderem Ingenieure, Ökonomen, Pädagogen, Psychologen, Ärzte und Juristen zählen. bwStrick vor der Zentrale in Bergisch GladbachInterviewInterviewStandpunkteHerr Strick, sind Sie für oder gegen ... Lang-LKW-Feldversuch in Deutschland mehr finanzielle Mittel für den Erhalt der Straßen in Deutschland elektronische Drosselung aller LKW auf 80 km/h der Grundsatz „Straße finanziert Straße“ Reform der VerkehrssünderdateiInterview

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