Berlin. "Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will" - mit ihrem Streik im Güterverkehr will die Lokführergewerkschaft GDL beweisen, dass diese Zeilen aus einem fast 150 Jahre alten Arbeiterlied noch immer gelten. Doch bislang ist offen, wie groß die Macht der Gewerkschaft tatsächlich ist - und wie pointiert sie ihre Stärke ausspielen wird. "Wenn wir da mal zwei, drei Tage Streik haben, wird man das gesamtwirtschaftlich kaum bemerken", schätzt Kai Carstensen vom Münchner Ifo-Institut. Gänzlich anders schaut es aus, sollten die GDL-Mitglieder länger und vor allem flächendeckend die Arbeit niederlegen.
Diejenigen Branchen, die auf sehr kurzfristige Zulieferungen angewiesen sind, haben sich rechtzeitig LKW-Kapazitäten gesichert. "Die meisten Unternehmen können einen einwöchigen Streik relativ unbeschadet überbrücken", erläutert der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik, Holger Hildebrandt. Für einzelne Firmen können aber auch schon wenige Streiktage zu großen Schwierigkeiten führen. Produktionsausfälle wären die Folge.
17 Prozent der 624 Milliarden Tonnenkilometer in Deutschland wurden nach Angaben des Bundesamtes für Güterverkehr im vergangenen Jahr über die Schiene abgewickelt. Vor allem die Stahl- und Energiewirtschaft transportiert ihre Metalle, Erze, Kohlen und Öle in den robusten Transportwaggons und füllt damit fast die Hälfte aller Güterzüge. Entsprechend sieht die Wirtschaftsvereinigung Stahl bei einem längeren Streik "erhebliche Probleme" auf die Branche zukommen, auch wenn viele Unternehmen Vorräte besitzen.
Die Chemieindustrie wäre ebenfalls schmerzhaft von einem Streik betroffen. Sie transportiert etwa acht Prozent - das sind gut 30 Millionen Tonnen - ihrer Rohstoffe und Zwischenerzeugnisse mit der Bahn. "Generell können unsere Unternehmen auch sehr kurzfristig auf andere Verkehrsträger ausweichen, aber wenn der Streik länger dauern sollte, müsste man mit Engpässen bei der Versorgung mit Rohstoffen rechnen", erklärt Monika von Zedlitz vom Verband der chemischen Industrie. Ein Branchenkenner gibt zudem zu bedenken: "Es gibt Produktionsprozesse in der chemischen Industrie, die dürfen nicht unterbrochen werden, sonst geht die Anlage kaputt."
Besonders kritisch sieht die Lage aber in der Automobilindustrie aus, die wie keine andere auf extrem kurz getaktete Lieferketten setzt. "Just in time" - also die Zulieferung unmittelbar vor der Verarbeitung - war gestern. Heute ist "just in sequence" angesagt - die Zulieferer erfahren erst wenige Tage vor der Produktion, welche Komponenten sie zu welchem Zeitpunkt in welcher Reihenfolge ans Band liefern sollen. Für Zulieferfirmen wie Leoni kommt die Bahn daher als Transportmittel gar nicht erst in Betracht. "Der LKW fährt dann, wenn wir fertig sind", begründet Sprecher Sven Schmidt die Wahl.
Dennoch bekommt etwa Audi gut ein Drittel aller Teile per Bahn in die Werke geliefert. Große Lager gibt es längst nicht mehr, der Puffer langt nur für einige wenige Tage. Und nicht nur das Zuliefern kann schnell zum Problem werden: Jedes zweite Auto wird nach seiner Fertigstellung mit der Bahn abtransportiert. Stockt dieser Fluss, sehnen sich nicht nur die Kunden ungeduldig nach ihren Neuwagen. Auch zahlreiche Schiffe warten in den Häfen vergeblich auf die für den Export bestimmten Autos; Liegezeiten und Leerfahrten sind teuer.
"Das ist eine Kettenreaktion. Der volkswirtschaftliche Schaden ist auf jeden Fall immens, wenn so ein Streik flächendeckend ist", betont Ingo Hodea vom Deutschen Speditions- und Logistikverband. Alles hänge nun davon ab, wie die GDL ihren Streik durchziehe. Blockiert sie nur einzelne Züge oder Strecken? Lässt sie die Züge in den Rangierbahnhöfen oder mitten auf der Strecke stehen? Sind neben den Haupt- auch die Ausweichstrecken betroffen?
Steht etwa ein Güterzug mitten auf einer Hauptverkehrs-Trasse, kann er nur schwer wieder weggebracht werden. Potenzielle Streikbrecher bräuchten nicht nur eine Zulassung für exakt den betroffenen Loktyp, sondern auch für genau jene Strecke. Die Folge: Stau auf der Schiene. Auch Personenzüge könnten feststecken.
Die Güter stattdessen auf die Straße zu verlagern, geht ebenfalls nicht so einfach. "Wir haben im Moment nicht so viele Fahrzeugkapazitäten frei, dass man das alles runterholen könnte von der Bahn", betont Hodea. 2000 kleinere Speditionen hätten in der Krise dicht gemacht, zudem zehre der Wirtschaftsaufschwung die wenigen Puffer auf. Deshalb macht sich das Speditionsgewerbe laut Hodea große Sorgen, sollte die GDL tatsächlich auf die Knotenpunkte im Bahnnetz zielen. "Das wäre der Gau." (dpa)