Die Grenzen setzt die Physik

Die Grenzen setzt die PhysikDie Bremsentechnik hat in den vergangenen Jahrzehnten große Sprünge gemacht, auch wenn die Öffentlichkeit das kaum bemerkt hat. Brembo-Bremsenprofi Canova Walter über die Kunst der Scheibe. Wo andere Gas geben, steht er auf der Bremse: Ein Exklusivtermin beim itali-enischen Edelbremsenhersteller Brembo brachte erstaunliche Einsichten rund ums Verzögern, vor allem im Nutzfahrzeugbereich. Die VR sprach mit Canova Walter, dem Commercial Vehicles Engineering Manager bei Brembo. Auf die Frage, wie sehr sich der Bremsweg eines 3,5-Tonners in den letzten 15 Jahren verkürzt hat, kann Walter eine exakte Antwort geben: "Dank der Entwicklung aller involvierten Komponenten wie den Sätteln, den Reifen und den elektronischen Bauteilen konnte man den Bremsweg immer weiter reduzieren. Bei 100 km/h brauchte man 1990 noch 56 Meter Bremweg, heute sind es noch 44 Meter. Allerdings gelten weiter die Regeln der Physik: Eine Verdoppelung der Geschwindigkeit bedeutet immer noch eine Vervierfachung des Bremswegs. Bei einem Reibbeiwert von 0,9 zwischen Reifen und Straße sollte ein 3,5-Tonner bei 100 km/h also nach 44 Metern stehen. Bei 50 km/h sinkt dieser Wert schon auf elf Meter, während bei 30 km/h rund vier Meter Bremsweg genügen müssen.Während man die Leistung der Bremsen laut Brembo um rund 25 Prozent nach oben geschraubt hat, konnte man das Gewicht seit 2004 um elf Prozent reduzieren und plant bis 2010 nur noch mit zwei Dritteln dessen, was eine Bremse 2004 wog. Das erreicht man vor allem über neue Konstruktionen und Werkstoffe. Gleichzeitig forscht man quasi an einer Evolution des Bremsens, was über verstärkte Einbindung der Elektrik geschehen soll. Hier denkt Brembo über Hybridbremssysteme nach, die vorn elektrohydraulisch und hinten rein elektrisch verzögern. Dabei soll auch die Modulation der Steuergeräte noch feinfühliger werden, was wiederum dem Bremsweg zugutekommt. Aber auch Laufleistung und Standzeit werden weiter verbessert. Walter dazu: "Mittlerweile haben wir für den Belag eine Zielgröße von 45.000 Kilometern, für die Scheibe 90.000 Kilometer. Der Bremssattel sollte 300.000 Kilometer schaffen, also ungefähr den Lebenszyklus eines Autos. Allerdings werden diese Werte stark vom Fahrstil beeinflusst. Es ist durchaus möglich, doppelt bis dreimal so weit zu kommen. Auch das Einsatzgebiet spielt eine große Rolle. Im Stop-and-go-Lieferverkehr werden die Bremsen ganz anders belastet als auf langen Autobahnetappen." Eine bessere Kühlung über speziell ausgeformte Rippen, neue Materialien und eine Reduktion der mechanischen Belastung hat die Lebensdauer der Komponenten laut Brembo allein in den letzten Jahren um rund 30 Prozent erhöht. Temperaturmessungen an der Brembo-Scheibe bestätigen die Italiener, die die Temperaturen in der Scheibe so um rund 40 Grad drücken konnten, was wiederum der Lebensdauer zugutekommt. Auch die Rissbildung will man reduziert haben. Trotzdem sollte man laut Walter immer noch ab und an ein "Auge auf die Bremsflüssigkeit im Vorratsbehälter werfen" und diese regelmäßig tauschen. "Denn nach wie vor absorbiert die Bremsflüssigkeit im Dampfzustand Feuchtigkeit." Die fatalen Folgen sind bekannt. Auch die Bremsscheibe altert, was man im Alltag allerdings kaum merkt. Hier hilft ab und an ein kundiger Blick durch die Felge hindurch weiter. Ein abgefressener Rand oder Risse in der Scheibe deuten auf das Ende ihres Lebenszyklus hin. Eher spürt man Unregelmäßigkeiten bei den Belägen, wenn zum Beispiel das Fahrzeug beim Bremsen unregelmäßig zieht. Ein immer noch auftretendes Problem ist eine Verglasung der Beläge.Spröde werdende Dichtungen erkennt man am Austritt von Bremsflüssigkeit. Laut Walter können aber auch Öl- oder Fettspuren auf der Scheibe zu nachlassender Bremswirkung führen. Die Werkstatt wird sich dagegen über eine vereinfachte Zerlegbarkeit freuen. Das reduziert die Standzeiten. Leider lässt sich die schöne neue Brembo-Welt nicht einfach nachrüsten. Walter dazu: "Da das Bremssystem ein vom Fahrzeugentwickler in der Konstruktion mitberücksichtigtes Sicherheitssystem ist, ist es nicht möglich, die Komponenten ohne Autorisierung der Fahrzeughersteller und der verantwortlichen Institutionen einfach zu modifizieren. Das umso weniger, je komplexer die Bremssysteme in den letzten Jahren wurden." Im Nutzfahrzeug getstet wird momentan die extrem griffige Keramikbremsscheibe. Walter: "Die Keramikbremsscheibe, abgekürzt CCM, was für Ceramic Composite Material steht, folgt den Maßstäben von Gewichtsreduzierung bei Laufleistung und erhöhter Reibung. Daher denkt Brembo in Zukunft auch an Anwendungen im Nutzfahrzeugbereich. Evaluierung und Simulation sind bereits im Gange, um die Machbarkeit dieses Prozesses festzustellen. Auch das automatische "Trockenbremsen" während der Fahrt wäre machbar, doch bislang hat laut Walter "noch kein Hersteller Interesse daran gezeigt". ❙❚■ GS/Jan Burgdorf

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